© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Deutsche und Polen: Erinnerung, Verstehen, Verständigung
Offen miteinander reden
Rolf Stolz

Wie sind Verstehen und Verständigung möglich? Beginnen wir bei uns, bei dem sozialen Einzelwesen, so stellen wir fest: Wer sich selbst nicht versteht, versteht andere Menschen noch weniger. Wer sich nicht mit sich selbst verständigt hat auf einen inneren Modus vivendi, auf einen Friedensschluß mit der eigenen Vergangenheit, mit den eigenen Fehlern und Niederlagen, mit enttäuschten Wünschen und Hoffnungen – wie will der in Frieden leben mit der Welt um ihn herum?

Diese Selbstverständigung ist nichts anderes als das Herausfinden, Herausbilden und Behaupten der eigenen Identität, und dieser Prozeß hat Gültigkeit nicht allein für Einzelmenschen, sondern auch für Völker und Länder. Die Bewahrung und lebendige Entwicklung der eigenen Identität ist für uns Deutsche von elementarer Bedeutung, um mit den Nachbarnationen zurechtzukommen. Ohne Selbstvergottung und ohne billige Ausreden – vom „Befehlsnotstand“ bis zur „Alternativlosigkeit“ – müssen wir den selbstzerstörerischen Schuldkult, die Affektanfälle des Selbsthasses à la „Deutschland verrecke!“ und „Bomber Harris, do it again!“ überwinden, wenn wir für unsere Nachbarn weder eine potentielle Bedrohung noch ein bequem ausbeutbares Opfer sein wollen. Daß den lange Gekrümmten der aufrechte Gang ungewohnt erscheint, daß er ihnen Phantomschmerzen bereitet, ist unvermeidlich.

Im 19. Jahrhundert erhielten die polnischen Schüler deutscher Schulen die Zeugnisse auf polnisch – wie weit ist von solcher Großzügigkeit Polen heute entfernt, wenn schon in Schlesien eine Schule nur gegen Widerstand sich nach Goethe benennen kann?

Die Flucht vor der historischen Verantwortung ist nicht allein gefühlskalt und bösartig, sondern auch hilf- und aussichtslos. Das gilt für Polen mit dem Fortwirken der Bierut-Dekrete, die für monströse Verbrechen Straffreiheit garantierten, ebenso wie für Tschechien mit seinem Festhalten an den Benesch-Dekreten oder für die gelenkte Halbdemokratie der Türkei mit ihrem Leugnen des Völkermords an den Armeniern, Assyrern und Griechen. Vergessen wir dabei eines nicht: Wenn wir heute dem Deutschen Reich zu Recht seine Mitschuld an dem Völkermord seiner türkischen Verbündeten vorhalten, so sollten wir berücksichtigen, in welch schwieriger Lage das ringsum eingekreiste Deutschland sich 1915 befand, während wir alle heute freie Hand haben, Nato-Verbündete zu kritisieren, dies aber in vielen Fällen aus Feigheit und verhüllter Komplizenschaft unterlassen.

Wenn auf Dauer eine fundierte Aussöhnung gelingen soll, müssen die Menschen westlich und östlich der Oder auf der Grundlage ihres jeweiligen patriotischen Selbstbewußtseins und gemeinsamer internationalistischer Solidarität in tätiger Reue überkommene Feindschaften überwinden und den unbedingten Vorrang der Menschenrechte und des Völkerrechts gegenüber allen Nationalismen, Staats- und Regierungsinteressen durchsetzen. Es geht um eine vorurteilslose Geschichtsforschung und einen wahrheitsgetreuen Geschichtsunterricht statt einseitiger Schuldzuweisungen, Mythenfabrikation, Beschönigungen und nationalistischer Borniertheit.

Wer weiß denn außerhalb der Fachhistorikerzunft, daß das Rydz-Smigly-Regime in einem gegen die Deutschen in Polen gerichteten „Gesetz zum Schutz der Staatsgrenzen“ vom 9. Juli 1937 die Ausweisung aus den Grenzgebieten für legal erklärte, wobei sich die kommunistischen Machthaber zehn Jahre später bei der „Aktion Weichsel“ auf genau dieses Gesetz beriefen? Wer kennt unter den jungen Menschen in beiden Ländern den Aufruf von Willy Brandt, Herbert Wehner und Erich Ollenhauer zum Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahre 1963, in dem es hieß: „Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden!“

Wann und wo wird offen darüber diskutiert, wie es zur gleichzeitig einsetzenden Wende der SPD-Führung in Richtung einer Ostpolitik kam, die den Status quo einschließlich der Spaltung Deutschlands für sakrosankt erklärte?

Wann wird Polen endlich anerkennen, daß der Deutsche Orden in seiner Verwaltungs- und Wirtschaftsstruktur viel moderner war als seine polnischen und litauischen Gegner? Wann wird in Polen erkannt und offen vertreten, daß im vierzehnten Jahrhundert die deutsche Bürgerschaft der Hauptstadt Krakau an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts stand und daß die Niederschlagung ihres Aufstands von 1311 durch den späteren König Ladislaus I. Ellenlang (Wladyslaw I. Lokietek) nicht allein sozialpolitisch und kulturell eine Katastrophe war, sondern daß sich damals bei der Hinrichtung und Verbannung der Deutschen aus der Stadt zugleich die Anfänge eines polnischen Chauvinismus zeigten, wie der britische Historiker Norman Davies in „God’s Playground“ (Oxford 2005) nachwies, auch wenn sich dieser in Krakau erst im 16. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der Gegenreformation durchsetzen konnte?

Wann wird Polen den großen zivilisatorischen Beitrag anerkennen, der von jenen deutschen Bauern im 18. Jahrhundert geleistet wurde, die – gerufen von polnischen Großgrundbesitzern – als „Hauländer“ durch ihre Pionierarbeit wüste, unfruchtbare Ländereien kultivierten? Wann wird Polen kritisch vergleichen, mit welcher Toleranz Preußen seine neugewonnenen polnischen Bürger behandelte und wie andererseits nach 1920 Polen den Deutschen kulturelle Eigenrechte immer wieder verweigerte – ganz zu schweigen von der Unterdrückung alles Deutschen nach 1945? Im 19. Jahrhundert – man kann dies im Posener Rathaus besichtigen – erhielten die polnischen Schüler deutscher staatlicher Schulen ihre Zeugnisse auf polnisch – wie weit ist von solcher Großzügigkeit das jetzige Polen entfernt, wenn schon in Schlesien eine Grundschule nur gegen massiven Widerstand sich nach Goethe benennen kann?

Wer erinnert daran, daß Roman Dmowski (1864–1939), der Führer der Nationaldemokratischen Partei Polens (der „Endecja“) und einer der einflußreichsten Politiker der Zwischenkriegszeit, nicht allein Verfechter eines monoreligiösen ultrakatholischen Staates und Panslawist war (seit 1900 forderte er ein russisch geführtes panslawischen Reich, was ihn von 1907 bis 1909 zum Mitglied der russischen Duma werden ließ), sondern auch ein glühender Deutschen- und Judenhasser? Dieser Mitunterzeichner des Versailler Vertrags sah zeitlebens Deutschland als Hauptgegner Polens. 1911 organisierte er den Boykott jüdischer Unternehmen.

Ein von staatlicher Bevormundung befreiter Austausch auf allen Ebenen ist erforderlich, mit offener und öffentlicher Auseinandersetzung um alle strittigen Fragen. Was damit gemeint ist, will ich mit einer eigenen Erfahrung der anderen Art verdeutlichen: Im September 2012 hielt ich auf dem Kongreß der Internationalen Sprachunion Deutsch (ISPRUD) in Posen einen Vortrag unter dem Titel „Leben im Westen, Wurzeln im Osten – Geschichte und Geschichten aus einem schwierigen Gelände“. Von den anwesenden polnischen, russischen und spanischen Germanisten und Deutschlehrern gab es interessierte Nachfragen, aber keinerlei Widerspruch. Lediglich ein altlinker deutscher Professor zeigt sich als Widerstandskämpfer, indem er meinem Vortrag fernblieb mit der Begründung, er könne sich denken, was ich sagen werde.

Zugesagt war, daß der Vortragstext in einem zweisprachigen Kongreßband erscheinen sollte. Die polnische Kongreßleitung lehnte aber im Sommer 2013 plötzlich trotz etlicher Proteste anderer Referenten unter Hinweis auf zwei anonyme Gutachter (einer vom Institut für Zeitgeschichte Berlin, laut Selbstbeschreibung auf der Netzseite eine „anspruchsvolle Forschungseinrichtung“ und ein „lebendiges Forum für Debatte und Wissenstransfer“) es ab, meinen Vortrag zu veröffentlichen – er sei „unwissenschaftlich“. Wie kaum anders zu erwarten, wird in bester stalinistischer Tradition im 2014 erschienenen Kongreßband weder meine Teilnahme in Posen noch mein Vortrag, noch die Kontroverse darum erwähnt.

Besitzen wir nicht die Kraft und den Mut, im eigenen Land und über die Grenzen hinaus mit allen dialog­bereiten politischen Kräften auf der Linken und der Rechten, mit Sozialisten und Konservativen, mit Liberalen und Ökologen, mit Patrioten und Internationalisten, mit Nationalisten und Kosmopoliten die reichlich vorhandenen Meinungsverschiedenheiten offen anzusprechen, einer Klärung näherzubringen und nach Lösungen zu suchen, wird es keine dauerhafte Versöhnung und Verständigung geben; genausowenig eine Politik, die den zukünftigen Herausforderungen standhalten wird.

Der Weg vorwärts ist kein Selbstlauf, er ist ein mühsamer Kampf mit vielen Gegnern in einem gefährlichen Gelände. Elementar wichtig ist, daß eine Verständigung der Regierungen auf einer Verständigung der Menschen beider 

Völker beruht.

Vergessen wir nicht: Die Bewältigung der Zukunft erfordert die Bewältigung der Vergangenheit und der Gegenwart. Der Weg vorwärts ist kein Selbstlauf und kein Spaziergang, er ist ein mühsamer Kampf mit vielen Gegnern, in einem extrem gefährlichen Gelände hart am Abgrund.

Die Wahlen vom vergangenen Sonntag haben nach acht Jahren der Skandale die links- bis marktliberale Bürgerplattform der Ewa Kopacz hinweggefegt und die PiS von Jaroslaw Kaczynski und der designierten Premierministerin Beata Szydlo siegen lassen. Ein Grund für diese Umkehr der Kräfteverhältnisse war auch, daß die Nähe der Kopacz-Regierung zu den Brüsseler Eurokraten die Menschen befürchten ließ, Polen werde so zum ungebremsten Zustrom zigtausender, Asyl und Alimentierung fordernder moslemischer Einwanderer gezwungen. Man muß abwarten, welche Politik die oft unkontrolliert zwischen nationaler Selbstbehauptung und aggressiver Selbstüberschätzung, zwischen dem Bewahren religiöser Werte und dem propagandistischen Mißbrauch der Religion schwankende PiS verwirklichen wird.

Von erstrangiger, elementarer Wichtigkeit ist, daß eine Verständigung der Regierungen auf einer Verständigung der Menschen beider Völker beruht. Das bedeutet, statt eines gouvernantenhaften Durchdrückens der Regierungspolitiken, einen Prozeß des vorurteilslosen Basisdialogs in Gang zu bringen. Die rituellen Gespräche der Spitzenpolitiker und der Parteifunktionäre mit ihren Leerformeln und Formelkompromissen helfen nicht weiter. Eine zukunftsfähige Politik muß diesen gehirnentleerenden Dauerkopfstand beenden, sie muß sich auf die Füße stellen und sich neu aufrichten an unabhängigen Köpfen, an unangepaßten Selbstdenkern. Daß die nicht so zu steuern und zu kontrollieren sind wie die außengeleitete amorphe Masse des Politpublikums liegt ebenso auf der Hand wie die Unumgänglichkeit von Konflikten und Kollisionen zwischen den etablierten Machtgruppierungen und neuen Kräften.

Aber in einer immer krisenhafteren und kriegsaffineren Welt liegt nur darin eine Chance auf Fortschritt und Heilung. Nur so kann eine Welt der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung entstehen, eine Welt ohne Vertreibungen, Annexionen und Entrechtung.






Rolf Stolz, Jahrgang 1949, ist von Hause aus Diplom-Psychologe. Er war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Vertreibung der Deutschen durch Polen („Viele Wahrheiten“, JF 51/14).

Foto: Ehrung für Erznationalisten als fester Bestandteil der Feiern am polnischen Unabhängigkeitstag: Der frühere Präsident Bronislaw Komorowski legt am 11. November 2014 einen Kranz am Warschauer Denkmal für Roman Dmowski nieder, einen Deutschenhasser, wie er im Buche steht