© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Wie Schnee in der Frühlingssonne
Asylkrise: Der Aufstand in der Union gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel ist vorerst abgesagt
Paul Rosen

Die Große Koalition wankt, ist unfähig die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Wortlos verließ SPD-Chef Sigmar Gabriel an Allerheiligen das Bundeskanzleramt, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ihm stundenlang eine „informative Aufrüstung“ (Seehofer) zuteil werden ließen, wie der Zustrom von Ausländern begrenzt werden könnte. Die von der CSU geforderten Transitzonen, von denen niemand so recht weiß, was sie sollen, werden von der SPD als „Massenhaftanstalten“ und „Symbolpolitik“ abgelehnt. Und von den „Registrierungszentren“, die der SPD vorschweben, wollen CDU und CSU nichts wissen. Neuwahlen wollen alle drei Parteien nicht, weil ihnen dann die Alternative für Deutschland (AfD) wichtige Mandate wegnehmen könnte. Seehofer meinte zwar noch am Dienstag, „keiner will Staatsversagen“, aber genau das steht bevor. 

Der „Geist von Kreuth“ blieb in der Flasche

Denn in der Koalition der Uneinigen bleibt nur der Stillstand als kleinster gemeinsamer Nenner. Gabriel weist alle Schuld der CSU zu. Die von den Bayern zuerst auf die Agenda gesetzten Transitzonen seien „ein in der Praxis unsinniges und auch noch unnötiges Verfahren“. Das zeigt, daß Gabriel ein Teil des Problems und nicht der Lösung ist, auch wenn er das mit seinem Anspruch auf die Kanzlerkandidatur suggerieren will. 

Um so mehr erstaunt die Wende des bayerischen Ministerpräsidenten. Fühlte sich Seehofer noch vor einigen Tagen als Speerspitze eines Aufstands gegen die Bundeskanzlerin, so schwand der bayerische Widerstand über Allerheiligen wie der Schnee in der Frühlingssonne. Der „Geist von Kreuth“ blieb da, wo er seit 1976 ist: in der Flasche.

Zu historischen Taten ist die CSU schon lange nicht mehr fähig. In der mittleren Führungsriege sind kaum noch Unterschiede zu CDU-Politikern auszumachen. Die seinerzeit von Franz Josef Strauß angedachte Taktik „Getrennt marschieren – vereint schlagen“ wäre heute sinn- und erfolglos, weil die größten Unterschiede zwischen den Schwesterparteien in der den „Nordlichtern“ fremden bayerischen Folklore bestehen. Die Unionsschwestern sind siamesisch geworden. 

Seehofer hat Ende November einen Wahlparteitag vor sich und will – letztmalig kandidierend – ein anständiges Ergebnis. So schloß er mit Merkel Frieden: „Wir sind zu einer klaren Vereinbarung gekommen, schriftlich niedergelegt, daß die Flüchtlingszahlen zu reduzieren sind.“ Er sei „im Moment zufrieden“. CDU und CSU vereinbarten außerdem die schnelle Einrichtung von Transitzonen und die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel der Reduzierung des Flüchtlingsstroms über die Ägäis. Außerdem sollen in Afghanistan, wo gerade die ganz große Reisewelle nach Deutschland beginnt, sichere Schutzzonen für Flüchtlinge eingerichtet werden. Seehofer tat so, als wenn hier Regierungsziele formuliert worden wären. Merkel auch. Doch Gabriel und die SPD sind nicht mit von der Partie. Es sei ein Trauerspiel, daß die Große Koalition trotz der Flüchtlingskrise „zerstritten und handlungsunfähig“ sei, erklärte die Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht.

Selbst Wolfgang Bosbach rief zur Einigkeit auf

Blind für die Realität in Deutschland macht die Berliner Politik weiter, als gebe es weder Probleme mit den Masseneinreisen nach Deutschland, weder die nach wie vor schwelende Griechenland-Krise, noch den faktischen Zerfall der EU. Sang- und klanglos wird auch das Ziel der neuverschuldungsfreien Staatshaushalte kassiert. Geld für ständig neue Kredite druckt die Europäische Zentralbank und gibt es den Regierungen für deren Schuldenpartys kostenlos. 

Doch der Versuch des Aufstands gegen die Kanzlerin bleibt bisher im Keim stecken. Merkel kann sich weiter auf den größten CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen verlassen, wo ihr Vertrauter, Bundestagsvizepräsident Peter Hintze, sehr großen Einfluß hat. Armin Laschet, der Landesvorsitzende der CDU Nordrhein-Westfalen, die auf Bundesparteitagen ein Drittel der Delegierten stellt, singt unermüdlich Loblieder auf Merkel: „In Europa verhandelt die Bundeskanzlerin mit Nachdruck für gemeinsame Lösungen.“ Potentielle Merkel-Rivalen wie Finanzminister Wolfgang Schäuble und Bundestagspräsident Norbert Lammert gingen beziehungsweise bleiben in der Deckung. Was in Berlin zählt, ist die Macht. Und da scheint Merkel intensiv an ihrer Bewahrung gearbeitet zu haben. Auf die Einigung von CDU und CSU folgte unmittelbar ein Kotau der Rest-Konservativen der CDU, die im Parlamentskreis Mittelstand ihr Schutzgebiet haben und angeblich ein eigenes Papier vorlegen wollten: „Die Vorlage eines weiteren Diskussionspapiers oder eines Antrags ist deshalb nicht mehr nötig“, ließ der Mittelstands-Vorsitzende Christian von Stetten (CDU) verlauten. Und der klare Analysen nicht scheuende mutige Einzelkämpfer Wolfgang Bosbach rief die Union zur Einigkeit auf. 

Aber ein Problem hat Merkel: Die Realität in Deutschland hat mit ihrer Welt nichts mehr zu tun.