© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Träume von einem neuen Land
Türkei: Trotz überraschendem Wahlsieg muß Erdogans AKP Verbündete suchen, um den Staatsumbau durchsetzen zu können
Marc Zoellner

Ahmet Davutoglu war außer sich vor Stolz und Freude. „Wir haben eure Botschaft verstanden“, verkündete der türkische Ministerpräsident noch in der Wahlnacht vergangenen Sonntag vom Balkon des AKP-Büros in der Hauptstadt Ankara seiner versammelten Anhängerschaft. Mit dieser Wahl hätten die Türken „all jene Verschwörungen gegen die Türkei zerschlagen“, jubelte Davutoglu, welche „von den Medienbaronen und Terrorunterstützern“ ausgegangen seien. „Jetzt haben wir große Ziele. Wir haben große Träume für dieses Land“, sagte Davutoglu. 

Wähler mit Geldgeschenken an die Urnen gelockt

Davutoglus Stolz auf den Wahlsieg der konservativen, im August 2001 vom derzeitigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegründeten und seit November 2002 beinahe ununterbrochen allein regierenden „Partei für Fortschritt und Gerechtigkeit“ (AKP) kommt nicht von ungefähr, ebensowenig wie sein Fleißappell. Bereits zum Endspurt des Wahlkampfes wurde dem engen Vertrauten Erdogans die Mission zuteil, die ausländische Wählerschaft unter dem AKP-Banner zu sammeln.

Allein nach Deutschland verschickte der Ministerpräsident dabei über 600.000 Briefe an registrierte Wähler. Und während sich der Wahlkampf in der Türkei vorrangig um die Debatte zum Mindestlohn drehte, bei dessen Höhe die vier konkurrierenden Blöcke sich derzeit gegenseitig zu übertrumpfen trachteten, versuchte Davutoglu, die in Deutschland lebenden anderthalb Millionen wahlberechtigten Türken und Kurden mit ganz eigenen, maßgeschneiderten Geldgeschenken an die Urnen zu locken. 

Darunter fanden sich unter anderem eine Ermäßigung auf Familientickets für die Turkish Airlines, eine Senkung der Freikaufsumme vom Wehrdienst in der Türkei sowie die staatliche Förderung zweisprachiger türkisch-deutscher Kindergärten innerhalb Deutschlands, berichtete das Deutsch-Türkische Journal (DTJ).

Die Wahl vergoldete Davutoglus Bemühungen sichtbar. Auf rund 60 Prozent der Stimmen, ergaben erste Hochrechnungen der türkischen Konsulate in Deutschland, konnte die AKP ihr Ergebnis verbessern. Zehn Prozent mehr, als sie selbst in der Türkei errang. In den nordrhein-westfälischen Ballungszentren von Düsseldorf und Essen setzten sogar zwei von drei Wahlberechtigten ihr Kreuz bei den Konservativen, und in Münster knackte die AKP sogar die 70-Prozent-Marke.

Bis zur Auszählung galt als unwahrscheinlich, daß die in der Juniwahl schwer angeschlagene AKP sich noch einmal aufrappeln und sogar die absolute Mehrheit im Parlament erringen würde. 

Gegenteilig prognostizierten sämtliche türkischen Umfrageinstitute eine ähnliche Pattsituation wie im Hochsommer. Gerade die horrenden Verluste der linken Opposition, der kurdisch dominierten HDP, überraschten die Meinungsforscher des Landes nach der Auswertung: Über eine Million ihrer Wähler, relativiert ausgedrückt jeder sechste vormalige HDP-Anhänger, wanderten in das Lager Erdogans über.

Neben den Islamisten der „Partei der Glückseligkeit“ (Saadet Partisi), welche gerade einmal noch auf 0,7 Prozent der Stimmen kamen, verlor auch die nationalistische MHP die Hälfte ihrer Sitze. Lediglich die Kemalisten der CHP konnten ihr Ergebnis verteidigen.

Daß die umfassenden Wählerbewegungen hin zu Erdogans AKP und fort von den Oppositionsparteien letztere selbst verursacht hätten, stand zumindest für den türkischen Präsidenten schon am Montag außer Zweifel. „Diese lange gehegte kompromißlose und rachsüchtige Einstellung“ von CHP und MHP während der letzten, gescheiterten Koalitionsverhandlungen, erklärte Erdogan Anfang der Woche vor Journalisten, würde „von unserer Nation nicht länger gutgeheißen“.

Der Ausgang der Parlamentswahl für die Konservativen beschert Erdogan einmal mehr die Möglichkeit nicht nur zur Umgestaltung der türkischen Republik nach seinen Wünschen, sondern ebenso zur Brüskierung der ohnehin schon geschwächten Opposition.

Nur eine letzte Hürde gilt es für Erdogan, Davutoglu und die AKP in ihrer geplanten Verfassungsänderung noch zu überwinden: Um diese eigenständig zu initiieren, fehlen ihr nach letztem Stand gut 14 Mandate. Der türkische Präsident und sein Premier werden nicht um die undankbare Aufgabe herumkommen, um Abweichler aus den Lagern der Kemalisten und Nationalisten zu werben – was im politischen System der Türkei durchaus nicht unüblich ist.