© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Die Mutter aller Stromausfälle
Vor fünfzig Jahren legte ein gigantischer Blackout den Nordosten der USA lahm / Anfälligkeit der Infrastruktur ist bis heute ein Problem
Wolfgang Kaufmann

Am frühen Abend des 9. November 1965 war es im Nordosten der USA und den angrenzenden Gebieten Kanadas ziemlich kalt, weswegen viele Verbraucher ihre Elektroheizungen hochregulierten. Das bewirkte eine partielle Überlastung der Stromnetze, welche innerhalb kürzester Zeit zum Zusammenbruch der Energieversorgung in Connecticut, Massachu-setts, New Hampshire, Rhode Island, Vermont, New York, New Jersey sowie Teilen von Ontario führte. Anschließend saßen dreißig Millionen Menschen um die zwölf Stunden ohne Strom, Radio und Fernsehen in ihren Häusern und Wohnungen fest. 

Dies soll neun Monate später zu einem „Babyboom“ geführt haben – allerdings konnte der Statistiker Richard Udry schon 1970 nachweisen, daß es sich hierbei um eine reine Legende handelte: Die Geburtenzahlen lagen im Sommer 1966 keineswegs höher als sonst.

Schuld ist die marode Infrastruktur in den USA 

Verantwortlich für den „Northeast Blackout“, der auch gerne pathetisch „Mutter aller Stromausfälle“ genannt wird, war ein falsch, das heißt zu empfindlich eingestelltes Überlast-Schutzrelais in einer Hochspannungsleitung nahe der Niagara-Fälle, welches binnen weniger Minuten einen Dominoeffekt auslöste, der zur Notabschaltung fast aller Kraftwerke in der Region führte. Dabei konnte die Zeitspanne, in der die Abnehmer ohne Strom ausharren mußten, noch relativ kurz gehalten werden, weil das autonom arbeitende Kraftwerk der Eastman Kodak Company in Rochester Energie zum Wiederhochfahren der Generatoren der anderen Elektrizitätserzeuger bereitstellte. 

Nach dem Ereignis, das unter der Bevölkerung erhebliche Panik ausgelöst hatte, weil zahlreiche Betroffene an einen Atomschlag der Sowjets oder gar Aktivitäten von „Unidentifizierten Flugobjekten“ glaubten, ergriffen Staat und Wirtschaft in den Jahren darauf Maßnahmen, um Wiederholungen zu vermeiden. Diese erwiesen sich aber als unzureichend, wie der nächste große Stromausfall am 13. und 14. Juli 1977 zeigte. Nunmehr konnten infolge zweier Blitzeinschläge in Indian Point und Queens neun Millionen Einwohner des Großraums von New York City 25 Stunden lang nicht mit Elektrizität versorgt werden, woraufhin es bereits kurz nach Beginn des Blackouts um 21.35 Uhr zu Plünderungen und Brandschatzungen kam.

Ein weiteres Beispiel für die Instabilität der US-Stromnetze ist der zweite „Northeast Blackout“ vom 14. August 2003. An diesem heißen Tag, an dem die Klimaanlagen zwischen Cleveland, Detroit, New York und Toronto auf Hochtouren liefen, mußten zeitweise bis zu 100 Kraftwerke vom Netz gehen, was für 50 Millionen Menschen zu Stromausfällen von einigen Stunden bis drei Tagen Dauer führte. Ausgelöst wurde das Ganze diesmal durch einen Computerfehler in der Schaltwarte der FirstEnergy Corporation in Ohio, wobei der Verdacht besteht, daß der Wurm Lovsan/Blaster für selbigen verantwortlich war.

Diese drei großen und zahlreiche weitere kleinere Blackouts in den USA zeigen, wie marode die Infrastruktur im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist, was übrigens keineswegs nur für die Stromnetze gilt. Ebenso vernachlässigt präsentieren sich die Gleisanlagen der Bahn und die Straßen einschließlich der Brücken (160.000 davon gelten derzeit als akut einsturzgefährdet), die Flughäfen und die Schulgebäude sowie die 85.000 Staudämme des Landes. Deshalb belegen die Vereinigten Staaten auch nur Platz 13 in der Rangliste der Länder mit der besten Infrastruktur. Um hier nach oben zu steigen, müßten nach Schätzungen der ASCE, also der Vereinigung der amerikanischen Ingenieure, bis 2020 um die 3,6 Billionen Dollar investiert werden – Geld, welches aber nicht vorhanden ist, was fatale Folgen haben dürfte.

Dabei ist es durchaus im Bereich des Möglichen, daß die Versorgung mit Elektroenergie zuerst kollabiert, weil hier besonders viel im argen liegt. Dazu bemerkte der ehemalige US-Energieminister William Blaine Richardson: „Wir sind eine bedeutende Supermacht mit einem Stromnetz der Dritten Welt.“ Und tatsächlich belegen die USA sogar nur Platz 32, was die Sicherheit der Energieversorgung betrifft. Damit liegen sie hinter Ländern wie Slowenien und Portugal.

Deutschland ist auf größere Blackouts nicht vorbereitet

Dies ist zum einen die Folge fehlender staatlicher Investitionen, zum anderen aber auch der Deregulierung des Strommarktes, die grundlegende und konzertierte Modernisierungsmaßnahmen verhindert. Besonders problematisch sind dabei die weitgehend veralteten Umspannwerke sowie die oberirdisch liegenden Stromleitungen, welche so störungsanfällig sind, daß den Bürgern empfohlen wird, ein Notstromaggregat bereitzuhalten.

Nach dem Urteil von Fachleuten drohen der Bundesrepublik Deutschland keine solchen Verhältnisse: Die technischen Standards der Kraftwerke und Verteilungsanlagen hierzulande sowie in Europa und die Erdverlegung der Stromkabel seien Garanten für eine viel höhere Versorgungssicherheit, sagt Jochen Homann, der Präsident der Bundesnetzagentur in Bonn. Das ist indes aber auch wieder nur die halbe Wahrheit, denn durch die „Energiewende“ werden nun zahlreiche neue oberirdische Trassen notwendig, in denen der Strom von den Windparks an der Nordsee zu den Verbrauchern im Süden fließen soll.

Darüber hinaus sind die Behörden und lebenswichtigen Einrichtungen der Bundesrepublik nicht auf großflächige, längere Blackouts vorbereitet, wie aus einem Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hervorgeht. Insofern könnte uns ein durch Naturkatastrophen, Terroranschläge oder auch Hacker verursachter Stromausfall innerhalb von nur zwei Wochen in quasi mittelalterliche Verhältnisse zurückwerfen.

Foto: Nichts geht mehr – Angestellte harren am Arbeitsplatz aus, Niagara 1965: Stromnetz wie in Dritter Welt