© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Ein Probelauf der Generation Dschihad in Europa
Vor zehn Jahren brannten in Frankreich die Migrantenghettos der Banlieues: Die Situation hat sich seitdem zugespritzt, die gegenwärtige Ruhe ist trügerisch
Dirk Glaser

Als sich im Juli die „Asylkrise“ zur Staatskrise mauserte und sich als größtes nationales Desaster seit 1945 abzuzeichnen begann, wollte der Welt-Redakteur Thomas Schmid den konservativeren Teil seiner Leserschaft mit der empirisch nicht belastbaren Feststellung beruhigen, ein Land müsse nicht kulturell und religiös homogen sein, „um erfolgreich zu sein“ (Die Welt vom 25. Juli 2015). Fast wörtlich kehrte diese irreführende Phrase in der Rede wieder, die Bundespräsident Joachim Gauck unlängst zur Jubelfeier „25 Jahre Einheit“ am 3. Oktober in der Frankfurter Oper hielt.

Schmid und Gauck eint, daß sie das berühmte Diktum des Staatsrechtlers und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde nicht begreifen. Demnach lebt der säkularisierte, freiheitliche Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Zu dieser vorpolitischen, unverfügbaren Substanz demokratischer Verfassung zählt das durch die NS-Rassen-ideologie maßlos diskreditierte physische Fundament eines Gemeinwesens, der Zusammenhang und Zusammenhalt der Generationen, ihre Sprache, ihre Sinn und Orientierung stiftende Bilderwelt der eigenen Kultur, Tradition, Überlieferung, Geschichte. 

Obwohl sich dessen offenbar nicht bewußt, unterstellt sogar Joachim Gauck diese von keiner Verfassung reproduzierbaren nationalen „Voraussetzungen“, wenn er die exklusive Identität der Deutschen an ihre historische Last Auschwitz und daraus resultierend an ihr „Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“ binden will. Nicht nur muslimischen Migranten bleibt diese aus der Schuld einer Schicksalsgemeinschaft abgeleitete deutsche Identität daher definitiv verschlossen. Daran ändert auch Gaucks untauglicher Versuch nichts, das Existenzrecht Israels zum universellen Wert zu deklarieren, der für keinen Migranten zur Disposition stehe.

Traum eines friedlichen Multikulti war geplatzt

Was der Bundespräsident mit solchen Beschwörungen „unverhandelbarer Werte“ propagiert, ist das französische Staatsideal der Nation als Willensgemeinschaft gleichberechtigter Menschen jenseits ethnischer, historischer, kultureller oder religiöser Determinierungen. Darum scheint der französische „Menschheitsstaat“ (Carl Schmitt) wie kein anderer den Integrationsanforderungen moderner „Einwanderungsgesellschaften“ gewachsen zu sein. 

Ein Glaube, an dem vor zehn Jahren die politisch-mediale Nomenklatura der Bundesrepublik für einen Augenblick irre wurde als unter dem Titel „Aufruhr in Eurabia“ die Spiegel-Ausgabe vom 7. November 2005 den „Traum eines friedlichen Multikulti-Miteinanders“ für geplatzt erklärte. Ein ernüchterndes Fazit, das sich für die Spiegel-Redakteure aus den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Frankreichs Vorstädten ergab. 

Die waren am 27. Oktober in der nordöstlichen Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois ausgebrochen, nachdem zwei Jugendliche nordafrikanischer Herkunft auf der Flucht vor der Polizei in einer Trafostation tödlich verunglückt waren. Jugendbanden, die sich aus muslimischen, aber auch christlich-schwarzafrikanischen Migrantenfamilien rekrutierten, feierten daraufhin eine Gewalt-orgie ungeahnten Ausmaßes. Für das US-Magazin Time kündigte sich hier die „Generation Dschihad“ an, die ihre Ansprüche im abendländischen Europa geltend mache. 

Übersehen konnten auf die größten Beschwichtiger sie angesichts von einigen zehntausend „abgefackelter“ Autos, Telefonzellen, Bushaltestellen und Müllcontainern jedenfalls nicht mehr. Drei Wochen lang tobte sich diese Stadtguerilla in den trostlosen Migrantenghettos von Paris, Marseille, Lyon, Toulouse und anderen Großstädten aus. 4.000 Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute wies die Statistik aus. Eine Serie von Brandanschlägen traf jüdische Einrichtungen, was diplomatische Verstimmungen zwischen Israel und Frankreich provozierte. Spuren im Mauerwerk mancher Polizeiwachen verrieten, daß Randalierer selbst vor dem Gebrauch scharfer Munition nicht zurückschreckten. Im Departement Seine-Saint-Denis kam wegen der wütenden Attacken auf Busse der öffentliche Personennahverkehr zum Erliegen, und erst der Einsatz von 1.300 Mann kasernierter Bereitschaftspolizei, die mit Gummigeschossen und Tränengas vorging, stellte Sicherheit und Ordnung wieder her. 

Wie nach den islamistischen Attentaten auf einen jüdischen Supermarkt und auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo zu Jahresbeginn 2015 währte die Schockstarre des auf Einwanderung fixierten Zeitgeistes auch im Herbst 2005 aber nur kurz. Erste realistische Analysen zur „Logik der Unruhen“, die, so zitierte der Spiegel einen Polizeioffizier, unzweifelhaft auf „Sezession“, auf die Abtrennung und Verwandlung ganzer Stadtteile und Gemeinden zu islamischen Herrschaftszonen zielten, gingen bald in der herkömmlichen Umdeutung der ethnischen und kulturell-religiösen in eine soziale Problematik unter. Was linksliberale sozialwissenschaftliche Therapievorschläge seitdem den politisch Verantwortlichen zu deren Lösung empfahlen, Bildungsinvestitionen und Integration durch Arbeit, besserte erwartungsgemäß wenig. 

Es herrscht „fauler Frieden“ mit islamistischen Banden

Nach wie vor verschärfen Arbeitslosigkeit, Armut, Langeweile, Kriminalität und Perspektivlosigkeit die Situation und befeuern die seit 2005 um nichts geminderte explosive Stimmung unter den „überflüssigen“ Migranten, die das wirtschaftlich chronisch schwächelnde Frankreich einfach nicht benötigt.  

Dennoch scheint die Integrationskraft des französischen Staatsbürgermodells nicht gänzlich entzaubert. Diese funktionierte ohnehin nur, solange eine relativ moderate Zuwanderung aus kulturell verwandten Regionen Ost- und Südosteuropas bewältigt werden mußte. Vor dem seit den 1950ern forcierten Unterschichtenimport aus Nord- und Westafrika sowie dem arabisch-türkischen Raum kapitulierte es hingegen und machte der islamischen Parallelgesellschaft Platz, die Millionen von Franzosen mittlerweile wie Marine Le Pen als „Besatzungsmacht“ empfinden. Eine schleichende Islamisierung, der, wie Michaela Wiegel urteilt (FAZ vom 27. Januar 2015), in den Banlieues lokale, überwiegend der Sozialistischen Partei François Hollandes angehörende Mandatsträger mit ihrem „faulen Frieden“, den sie mit kriminellen Banden und salafistischen Gruppen schlossen, den Weg ebnen.