© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Flüchtlinge sind profitabler
Obdachlose: Im Wettkampf um Notunterkünfte und Lebensmittel haben sie im Gegensatz zu Migranten schlechte Karten
Elena Hickman

Um ihn herum hängen Arbeiter gerade die Weihnachtsdekoration auf – goldene Sterne, bunte Kugeln, grüne Tannenzweige. Doch für den alten Mann bedeutet diese Jahreszeit nicht etwa Geschenke oder kuschelige Abende auf der Couch. Die nächsten Monate werden für ihn hart und gefährlich – denn er lebt auf der Straße. Der bärtige Obdachlose sitzt in seinem Stuhl vor den Wilmersdorfer Arkaden in Berlin und schaut zu, wie funkelnde Lichterketten an der Fassade angebracht werden. Noch ist das Wetter nicht kalt genug für Schnee, die Straße um ihn herum glänzt naß vom Regen. Das würde ihm nichts ausmachen, „ich bin doch nicht aus Zucker“, sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. 

Sein Gesicht ist geprägt von vielen Falten und einem weißen, krausen Bart, der um den Mund herum braun verfärbt ist. Neben ihm liegt sein Hund Puma auf bunten Decken. An einem kleinen Einkaufsroller ist ein Papierbecher für Geldspenden befestigt – leicht gewellt vom Regen. 

Im Winter wird sich die Situation zuspitzen 

In ein paar Stunden wird die Kälte den alten Obdachlosen hier wegtreiben. „Dann geh ich zu Karstadt rein und kauf mir einen Kaffee“, berichtet er aus Erfahrung, „da kann ich mich aufwärmen“. Und heute nacht? „Ich kenn schon Plätze, die warm sind, da geh ich hin“, sagt er und breitet eine dünne Decke über seinen Hund. In ein Obdachlosenheim will er allerdings nicht gehen. „Das ist mir zu laut“, grummelt er und schiebt hinterher, „und zu voll“. 

Überfüllte Obdachlosenheime sind an den meisten Orten in Deutschland ein Problem. Auch in Berlin ist die Lage für Obdachlose in den vergangenen Jahren immer schlimmer geworden, besonders durch die vielen Migranten. Sie belegen derzeit viele Notunterkünfte, die bisher für Obdachlose genutzt wurden. 

Über die Zahl der Obdachlosen in der Hauptstadt existieren bislang nur Schätzungen. Der Berliner Senat nennt seit über zehn Jahren eine Zahl zwischen 2.000 und 4.000 Obdachlosen – allerdings gehen viele Hilfsorganisationen von einer viel höheren Anzahl aus. Die Senatsverwaltung für Soziales hat die Kältehilfe im Vergleich zum Vorjahr (543 Schlafplätze) zwar aufgestockt, doch es gibt immer noch nur rund 700 Schlafplätze. 

In einem Wettkampf zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen sind erstere besonders aus finanziellen Gründen im Nachteil. Die Stadt Berlin zahlt den Betreibern von Kältehilfe-Unterkünften pro Obdachlosem 15 Euro die Nacht. Allerdings braucht eine Einrichtung allein 25 Euro, um die Kosten zu decken. Die Unterstützung für Flüchtlinge sieht dabei schon anders aus. Pro Flüchtling, der auch tagsüber in der Einrichtung bleibt und mit Essen versorgt wird, zahlt die Stadt den Betreibern bis zu 50 Euro. 

Helfer von verschiedenen sozialen Organisationen erleben das Problem hautnah. Eine Mitarbeiterin im sozialen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ sagt der JUNGEN FREIHEIT, während ihrer Zeit in einer Notunterkunft in der Prenzlauer Allee sei regelmäßig nicht genug Platz für Bedürftige gewesen. „Wir mußten immer wieder Leute abweisen, weil alles voll war“, erzählt sie bedauernd, „das war nicht schön.“ Und der Platzmangel habe sich durch die Flüchtlinge verschlimmert: „Das ist schon so, daß es durch die Flüchtlinge noch schwieriger geworden ist.“ 

Aufgrund des finanziellen Anreizes neigen Betreiber eher dazu, Unterkünfte für Migranten zu stellen als für Obdachlose. Dem kann auch der Chef des Berliner Sozialträgers GEWEBO, Robert Veltmann, zustimmen. Er koordiniert die Angebote der Organisationen, die das Netzwerk Kältehilfe bilden. Es werde immer schwieriger, Gebäude für die Notunterkünfte der Kältehilfe für Obdachlose zu finden, sagte Veltmann dem Fernsehsender RBB. Die Kältehilfe habe für manche Räume angefragt, ob sie daraus eine Notübernachtung machen könne, erklärt Veltmann. Aber „da werden gerade von vielen Seiten Räume gesucht“, und sie hätten zu hören bekommen, daß gerade geprüft werde, ob sie als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen seien. Veltmann ist sich sicher, im bevorstehenden Winter werde sich die Situation zuspitzen: „Weil wir wissen, daß es auch zahlreiche unversorgte Flüchtlinge gibt, die möglicherweise auch das Hilfesystem der Berliner Kältehilfe aufsuchen müssen.“ Der Kältehilfe bereite es „große Sorge“, sagt Veltmann, „daß wir jetzt vor Anforderungen stehen, die wir so bisher noch nicht kannten.“

Die Notunterkunft aus der Prenzlauer Allee 87, geleitet vom Verein mob e.V., der auch die Obdachlosenzeitung Straßenfeger herausgibt, konnte inzwischen ein neues Zuhause finden. Am 20. Oktober öffnete die Unterkunft ihre Türen in der Storkower Straße 139c. Dort erhalten jetzt 20 Obdachlose für die Nacht ein Dach über dem Kopf und ein sauberes Bett. Spätestens um 8 Uhr morgens müssen die Bedürftigen die Unterkunft jedoch wieder verlassen. Insgesamt drei Tage lang dürfen die Obdachlosen das Angebot in Anspruch nehmen, pro Nacht müssen sie zwei Euro bezahlen. 

Im gleichen Gebäude befindet sich auch ein Wohnheim für 255 Flüchtlinge. Sie haben das erste Aufnahmeverfahren hinter sich und dürfen dort einige Monate, aber auch bis zu mehreren Jahren, wohnen. Für die Räume der Obdachlosen muß der Verein Miete bezahlen. Dabei sei die Hilfe für Obdachlose Aufgabe der Regierung, berichtet eine Mitarbeiterin der Notunterkunft der JUNGEN FREIHEIT.

Zur Zeit sei der Ansturm nicht so groß, erzählt sie, weil das Wetter noch so mild sei. Aber wenn die Temperaturen fielen, würde sich das ändern. „Dann stehen hier um 18 Uhr die Leute vor der Tür Schlange“, erklärt sie. Über das Netzwerk Kältehilfe würden sie dann versuchen, alle irgendwie zu verteilen und in anderen Unterkünften unterzubringen. Daß die Flüchtlinge im gleichen Haus wohnten, sei überhaupt kein Problem, versichert sie. 

Sie mag ihre Arbeit und den Umgang mit den Menschen. Die wenigsten Obdachlosen verkörperten das bekannte Klischee – betrunken oder drogenabhängig. Aber insgesamt kämen immer mehr Obdachlose aus den ehemaligen Ostblock-Ländern in die Notunterkünfte, vor allem aus Serbien, Bulgarien oder Rumänien. Die würden sich eher trauen zu kommen als deutsche Obdachlose, „weil die vielleicht auch schon mal schlechte Erfahrungen gemacht haben“. Menschen aus Litauen beispielsweise seien da anders drauf, da käme es auch schon mal zu Reibereien. Außerdem „sind die auch gut vernetzt“, erklärt die Mitarbeiterin. „Wenn dann einer aus zum Beispiel Litauen weiß, daß in einer Unterkunft was frei ist, dann ruft der gleich andere an, und plötzlich steht eine ganze Gruppe vor der Tür.“ 

Doch nicht nur Schlafplätze werden immer knapper. Auch die Lebensmittel der Hilfsorganisation „Die Tafel“ sind unter Obdachlosen und Migranten gleichermaßen begehrt und reizen damit die Belastbarkeit der Gruppe aus. Durch den starken Anstieg an Empfängern komme es vor, daß Bedürftige wieder weggeschickt werden müßten, bestätigte die Organisation auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT.

Derzeit müßten viele Tafeln in Deutschland einen erheblichen Zulauf bewältigen. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, bliebe als letztes Mittel dann manchmal nur, einen Aufnahmestopp zu verhängen. Vor allem in Städten und Regionen, auf die durch den Königsteiner Schlüssel viele Asylsuchende entfielen, stünden die Tafeln vor Problemen. 

„Die meisten kommen her, um Geld zu sparen“

Im Berliner Ortsteil Moabit befindet sich eine Ausgabe der Tafel direkt an der Erlöserkirche. Dort stellen Obdachlose nur eine Minderheit dar. „Es gibt immer wieder ein paar Obdachlose“, bestätigt der 21jährige Roma, „aber die meisten, die hier Sachen holen, leben in einer Wohnung und bekommen Geld vom Staat.“ Ursprünglich kommt Roma aus der Ukraine, lebt aber schon seit ein paar Jahren in Deutschland. Er hat heute seine Großmutter zur Lebensmittelverteilung begleitet, die spricht allerdings nur Russisch. Für sich selbst habe er aber auch schon mehrmals etwas geholt, erzählt er. Normalerweise würden hier um die achtzig Menschen kommen.

Um ihn herum stehen die Bedürftigen. Die meisten tragen gepflegte Kleidung, halten ein Handy in der Hand, Kopfhörer baumeln um ihren Hals, einige Frauen tragen Kopftücher. Es geht hier sehr ruhig zu, für die Wartenden ist der Ablauf Routine. 

„Die meisten kommen hier her, um Geld zu sparen“, erklärt Roma. Sein Deutsch mischt sich unter die verschiedenen Sprachen, die vor der Kirche über den Platz wehen – hauptsächlich Arabisch und Russisch. In der Nähe liegt eine Flüchtlingsunterkunft, von da „kommen auch oft Leute hier her“, sagt der 21jährige. „Es gibt hier viele Syrer, die Essen holen, oder Leute aus Ländern wie Serbien oder Bulgarien.“ 

Das ist für eine Ausgabestelle nicht ungewöhnlich. Die ursprüngliche Zielgruppe der Tafeln habe sich inzwischen gewandelt, gibt der Bundesverband Deutsche Tafel an. Obdachlose würden mittlerweile nur noch einen geringen Anteil der Tafel-Kunden stellen – bereits 2014 lag dieser bei unter zwei Prozent.





Bundesverband Deutsche Tafel e.V. 

Die erste Tafel wurde 1993 in Berlin gegründet. Aktuell gibt es 922 Tafeln, die Mitglied im Bundesverband Deutsche Tafel e.V. sind. Etwa 2.100 Tafelläden und Ausgabestellen existieren in ganz Deutschland. Cirka 60.000 ehrenamtliche Helfer engagieren sich beim Verteilen der Lebensmittel. Häufig kommen diese aus Supermärkten, die leicht verderbliche Lebensmittel, wie frisches Obst und Gemüse, als Spende dort abgeben. Wurden 2007 regelmäßig 700.000 Personen mit Lebensmitteln unterstützt, so hat sich die Zahl der Bedürftigen innerhalb der vergangenen sieben Jahre mehr als verdoppelt: 2014 waren es bereits bis zu 1,5 Millionen. Geschuldet ist dies zum Teil auch der Asylkrise. Anfang des Jahres suchten 120.000 Flüchtlinge Unterstützung bei den Tafeln. Inzwischen versorgen die Tafeln aber bundesweit bereits über 200.000 Flüchtlinge. Gerade in strukturschwachen und dünn besiedelten Gebieten sei das ein Problem, bestätigte die Organisation auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT, wenn dort durch die Asylkrise auf einmal eine große Zahl an Flüchtlingen untergebracht werden – beispielsweise in Erstaufnahmeeinrichtungen oder ehemaligen Kasernen der Bundeswehr. Während die örtliche Tafel dort bisher nur eine kleine Zahl von Menschen mitversorgt habe, kämen nun auf einen Schlag bis zu 300 zusätzliche Empfänger hinzu. Dies sei schlicht nicht zu leisten.