© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Deutschland, der verwundbare Hegemon
Kein Wille zur Macht?
Peter Michael Seidel

Es gibt ein englisches Sprichwort, das lautet etwa so: Außenpolitik ist kein Cricketspiel, und deshalb ist Außenpolitik weder gerecht noch fair. Wenn Briten, denen man gern einen gewissen Pragmatismus und Common sense nachsagt, zusammen mit Franzosen, die in der Regel Wert auf einen gewissen Esprit legen, in diesen Tagen mit deutschen Regierungsvertretern zusammentreffen, kann es deshalb ungewohnt drastisch werden: So geschehen jüngst beim Treffen des „Club of Three“ des Lord Weidenfeld in London. Dort schlug deutschen Regierungsvertretern „Spott“, „Sarkasmus“, ja „Verachtung“ für den Kurs ihrer Kanzlerin in der sich entfaltenden Asylkrise entgegen. Private deutsche Außenexperten sprachen von „Naivität“ und „Verantwortungslosigkeit“, was nach Angaben der FAZ, die darüber berichtete, noch zu den freundlicheren Charakterisierungen der Berliner Politik gehört haben soll. Bereits zuvor hatte der englische Politikwissenschaftler Anthony Glees die deutsche Regierungspraxis, einer Völkerwanderung mit dem deutschen Asylrecht zu begegnen, als emotionalisierte Reaktion eines „Hippie-Staates“ bezeichnet (JF 38/15).

Anfang des Jahres hatten sich Bundespräsident und Verteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz grundsätzlich positiv dazu geäußert, Deutschland müsse aufgrund seiner gewachsenen Stärke mehr internationale Verantwortung, gerade auch in Europa, übernehmen. Und wenige Monate danach erschien in Deutschland eine Publikation zur deutschen Außenpolitik, die aufhorchen ließ, eine Edition der Körber-Stiftung in Hamburg, einer der deutschen Denkfabriken zur Außen- und Sicherheitspolitik und Ausrichter internationaler Konferenzen und Gesprächskreise.

Autor war der renommierte Berliner Professor und Politikberater Herfried Münkler, der Titel handelte von einer neuen deutschen Rolle als (Führungs-)„Macht in der Mitte“ Europas und den damit verbundenen neuen Aufgaben. Tenor: Um einen politisch-kulturell wie sozial-strukturell so heterogenen  Raum wie die Europäische Union zusammenzuhalten und die zentrifugalen in zentripetale Kräfte zu verwandeln, bedürfe es einer starken geopolitischen Mitte für den Fortbestand des Europaprojekts, und bei dieser Mitte könne es sich nach Lage der Dinge nur um Deutschland handeln, einen allerdings „verwundbaren Hegemon“. Dieser Auffassung wurde kaum grundsätzlich widersprochen, in Journalisten- und Expertenkreisen wurde sie eher wohlwollend aufgenommen. Es war die Zeit nach dem Abkommen Minsk II, an dessen Zustandekommen das Berliner Kanzleramt eine herausragende Rolle gespielt hatte, und das zum Musterbeispiel einer Politik der starken Mitte in Europa wurde. Kommentiert wurde dies als der mögliche Beginn eines neuen Denkens, als „deutscher Moment“ einer Implementierung europäischer Außenpolitik. Hippie-Staat oder „Hegemon“ – dazwischen liegen Welten, sollte man meinen.

Fukushima, Minsk II, der EU-Grexit-Gipfel und die Völkerwanderung nach Europa sind vier Ereignisse, an denen Herfried Münklers These von der „Macht in der Mitte“ und den drei strategischen Verwundbarkeiten Deutschlands überprüft werden kann.

Allerdings hat Münkler seine Ideen nicht so eindeutig formuliert, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Dies gilt bei näherem Hinsehen auch für den von ihm verwendeten zentralen Begriff vom „verwundbaren Hegemon“. Handelt es sich bei Münklers Beitrag zu einer gerade erst begonnenen Debatte um einen Versuchsballon, den Versuch eines Brückenschlags zwischen denen, die einfach nur „mehr Europa“, und denen, die den eigenen Staat nicht aufgeben wollen? Zwischen denen, für die das deutsche Opfer für Europa gar nicht groß genug sein kann, und denen, die vor den Folgen allzu bereitwilliger Großzügigkeit bis hin zu Überforderung, ja Selbstaufgabe warnen? Zwischen „unkritischen“ und „kritischen“ deutschen Europaanhängern also?

Fukushima, Minsk II, der EU-„Grexit“-Gipfel und die Völkerwanderung nach Europa: Vier Ereignisse, an denen die These von der „Macht in der Mitte“ überprüft werden kann. Und zwar durchaus auch anhand der von Münkler aufgestellten Kriterien über die „drei strategischen Verwundbarkeiten Deutschlands“, also erstens eine zu geringe Populismusresistenz, zweitens eine Blockade innenpolitischer Kontroversen und drittens eine Verwundbarkeit aufgrund der deutschen Geschichte. Zu überprüfen wären somit ein Ereignis innenpolitischer, zwei außenpolitischer Art und eines aus beiden Bereichen.

Bei Fukushima und dem nachfolgenden milliardenteuren deutschen Atomausstieg handelt es sich um Populismus in Reinform, und zwar von Regierung und Volk, einen unabgestimmten deutschen Alleingang in Europa. Bei Minsk II um eine deutsche Initiative, bei der Frankreich mit im Boot war, die für Europa stehen konnte und von diesem akzeptiert wurde. Beim Grexit-Gipfel setzte sich Frankreich durch, mit Zustimmung der Bundeskanzlerin – ebenfalls eine milliardenschwere Entscheidung –, unhinterfragt von den Medien. Hier kamen in der Tat antideutsche Polemiken unter Rückgriff auf die Geschichte zum Tragen.

Und bei der gegenwärtigen Asylkrise scheint es sich wie im ersten Fall wieder um eine spontane, jedenfalls aber wieder milliardenteure Entscheidung der Kanzlerin zu handeln, unabgestimmt und Europa spaltend. Die Rede ist davon, daß hier „nicht der Kopf, sondern das Herz regiert“, vermittelt durch „politisch korrekte Begeisterung im Staatsfunk“. Die Rede ist auch von „Tugendprotzerei“, „Kirchentagspolitik“, dem „Berliner Heiligen Stuhl“, der „Ersetzung politischer Gestaltungsfähigkeit durch Nächstenliebe“, ja „einer Art bedingungsloser Kapitulationserklärung“. Alles Journalistenkommentare wohlgemerkt, keine Leserbriefe.

Wenn heute Regierungen Emotionen mobilisieren, dann ist das ein wenig so, wie wenn sie früher Kriege erklärten: Man weiß, wie man hineinkommt, aber nicht, wie wieder heraus. Jede Regierung wird es sich in der Regel also genau überlegen, bevor sie solche Schritte einleitet. Denn Politik lebt zwar gerade tagespolitisch davon, Anlässe zu schaffen, um ihre Anliegen voranzubringen; etwas anderes ist es aber, unvorhergesehene Anlässe zu nutzen, was viel seltener vorkommt, dann aber oft größere Möglichkeiten bietet. Bleibt die Frage, worum es sich bei Merkels Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, handelt: War es eine kurzfristige, emotionale Entscheidung oder kam dies einer langfristigeren Planung entgegen?

Eine deutsche Singularisierung galt bisher als zu vermeidender Sündenfall deutscher Außenpolitik. Nach der sich zum Desaster entwickelnden Merkelschen Asylpolitik mit ihrem neuen deutschen Sonderweg scheinen abrupte Kurswechsel akzeptabel.

Bereits 1990 schätzte Henry Kissinger Deutschland als so stark ein, „daß die bestehenden europäischen Institutionen aus eigener Kraft keine Balance zwischen Deutschland und seinen europäischen Partnern mehr herzustellen vermögen“. Wie paßt das zu den mageren Ergebnissen deutscher Außenpolitik, insbesondere in der Eurokrise, wie zur Einschätzung realistischer Autoren wie Michael Hüther („Rehabilitiert den Nationalstaat“, JF 4/15) oder Martin Winter („Nur eine schöne Seifenblase“,  JF 41/15), wie auch in der Bevölkerung in Deutschland?

Außenpolitik ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg keine Kabinettspolitik mehr, die Öffentlichkeiten nehmen seitdem zunehmend Einfluß darauf – emotionaleren, volatileren Einfluß. Dies gilt in unterschiedlichem Maße für alle Staaten. Doch wenn erratische, abrupte Kurswechsel Regierungspolitik werden, sind Fragen angebracht, nicht zuletzt zu Berechenbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Sinn solcher Aktionen, gerade wenn sie die Emotionalität solcher Politik verstärken oder gezielt fördern: Wir schaffen das? Wieso sollten wir? Und vor allem: was und warum? Deutschland ist heute weder Hippie-Staat noch Macht in der Mitte. Warum betreibt es dann in diesem Fall keine Asylpolitik, wie sie Demokratien wie die USA, Israel, Spanien, Indien und Australien praktizieren, indem sie ihre Grenzen schützen?

Wenig Raum nimmt in Münklers Ausführungen ein wichtiger Aspekt ein: der des politischen Willens. Münkler spricht ihn ausdrücklich an, beläßt es dann aber bei dem Hinweis, daß das von ihm entworfene Konzept „dementsprechend politisches Personal braucht“, und daß die dritte deutsche Erstarkung in hundert Jahren allen Umbrüchen zum Trotz von der deutschen Politik nicht „angestrebt oder betrieben worden wäre“, was allerdings lange Zeit auch für eine aktive Wiedervereinigungspolitik galt. Vielleicht wollen die Regierungen besser doch keine Führungsrolle?

Eine deutsche Singularisierung galt bisher als zu vermeidender Sündenfall deutscher Außenpolitik. Nach der sich immer mehr zum Desaster entwickelnden Merkelschen Asylpolitik mit ihrer selbstverschuldeten Singularisierung, ihrem neuen deutschen Sonderweg, scheint dies nicht mehr zu gelten, scheinen abrupte Kurswechsel akzeptabel. Kurswechsel, die dann auch über die Partner in Europa hinwegfegen können.

Oder ist es wahrscheinlicher, daß Berlin nur auf Anlässe wartet, um Deutschland langfristig so zu verändern, um das immer noch populäre Ziel, nur eine größere Schweiz zu sein, zu erreichen? Unter dem Feigenblatt einer altruistischen „Macht“ in der Mitte? Einer „Macht“, die es als ihre alleinige Aufgabe ansieht, sich für die EU zu opfern, koste es, was es wolle, ohne Obergrenze?

Das Verhalten der anderen EU-Mitglieder in der aktuellen Völkerwanderungskrise zeigt, daß man dort dazu nicht bereit ist. Vielleicht greift ja ähnlich wie beim Fall der Mauer Hegels „List der Geschichte“? Vertrauen darf man darauf allerdings nicht.






Dr. Peter Michael Seidel, Jahrgang 1956, arbeitet als Public-Affairs-Berater und Publizist in Frankfurt am Main. Er war Referent für Sicherheits- und Europapolitik unter den Generalsekretären Heiner Geißler und Volker Rühe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und Geschäftsführer der entsprechenden CDU-Bundesfachausschüsse. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Außen- und Sicherheitspolitik („Der Beginn eines Umdenkens“,    JF 29/14). 

Foto: Große Worte, nichts dahinter: Wenn heute Regierungen Emotionen mobilisieren, dann wirkt das ein wenig so, wie wenn sie früher Kriege erklärten: Man weiß, wie man hineinkommt, aber nicht, wie wieder heraus.