© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Als Molotow die Katze aus dem Sack ließ
Der Besuch des sowjetischen Außenministers 1940 in Berlin offenbarte Stalins Interesse an Skandinavien und Osteuropa
Wolfgang Kaufmann

Im September 1940 beschloß Hitler angesichts der immer erfolgloseren Kriegführung gegen England, die Idee seines Außenministers Joachim von Ribbentrop aufzugreifen, doch einmal einen ganz konsequenten Versuch zu starten, die Sowjetunion in den Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan einzubinden, um die Briten dergestalt zum „Ausgleich“ zu zwingen. 

Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt alles andere als einfach, den Kreml zu Verhandlungen zu bewegen, deren Zweck darin bestehen sollte, die Politik des Dritten Reiches und der UdSSR „auf längste Sicht zu ordnen“ und „in die richtigen Bahnen“ zu lenken, wie es im bombastisch formulierten Einladungsschreiben an den sowjetischen Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow vom 13. Oktober 1940 hieß. Schließlich wußte Stalin ganz genau, daß er gegen Churchill ausgespielt werden sollte. Deswegen hatte er auch schon drei frühere Gesprächsangebote ausgeschlagen. Doch nun obsiegte seine Neugier – außerdem schien ihm der Moment günstig, um auf die eigenen, mittlerweile äußerst umfangreich gewordenen Ansprüche hinzuweisen.

Stalin zeigte Desinteresse an Weltaufteilungsutopien

Die erste Unterredung zwischen Hitler beziehungsweise von Ribbentrop und dem Chef des UdSSR-Außenkommissariates sowie dessen Stellvertreter Wladimir Dekanossow fand am frühen Nachmittag des 12. November 1940 statt. In deren Verlauf versuchte der deutsche Reichsaußenminister von Molotow zu erfahren, ob Moskau denn bereit sei, „sich mit dem Ziel des Dreierpakts, das heißt der Verhinderung der Kriegsausweitung und der baldigen Herstellung des Weltfriedens“, zu identifizieren, wobei eventuelle territoriale Fragen natürlich auf die denkbar großzügigste Weise gelöst werden könnten, wenn es zu einer „sowjetrussischen Mitarbeit“ käme. 

Hierauf antwortete Stalins Unterhändler, er brauche noch „eine Reihe von Erklärungen (...), um die Bedeutung des Paktes genauer erkennen zu können“. Dies war das Stichwort für Hitler, der Molotow damit zu ködern versuchte, „daß der Dreierpakt die Verhältnisse in Europa im Bereich der natürlichen Interessen der europäischen Staaten ordnen solle und Deutschland daher nunmehr an die Sowjetunion herantrete, damit diese (...) mitsprechen könne.“ Doch damit nicht genug. Während des zweiten Treffens am 13. November erweiterte Hitler sein Angebot noch um einiges: „Nach der Niederringung Englands würde das britische Weltreich als eine gigantische Weltkonkursmasse von 40 Millionen Quadratkilometern zur Verteilung kommen. In dieser Konkursmasse läge für Rußland der Weg zum eisfreien und wirklich offenen Weltmeer.“

Letzteres interessierte Molotow, der in der Nacht geheime telegrafische Weisungen von Stalin bezüglich der weiteren Verhandlungen erhalten hatte, jedoch nur wenig. Deshalb lenkte er das Gespräch immer wieder von Asien und Afrika weg und zurück zu Europa, dessen Probleme Moskau deutlich „näher lagen“, wie der Außenkommissar meinte. 

Und dann präsentierte er die sowjetische Wunschliste, welche bei Hitler und von Ribbentrop zu langen Gesichtern führte: Statt sich auf irgendwelche utopische Weltaufteilungspläne einzulassen, wollte Molotow als Preis für einen Beitritt seines Landes zum Dreimächtepakt konkrete Zugeständnisse der deutschen Seite, was das Festsetzen der UdSSR in Skandinavien und Osteuropa sowie am Bosporus und den Dardanellen betraf. Damit offenbarte er die feste Entschlossenheit Stalins, an der Expansion in Richtung West und Südwest festzuhalten.

Hitler quittierte dies nach der Abreise des Gastes mit der ernüchterten Bemerkung, nun wisse man ja, „wohin die Pläne der Russen gingen. Molotow habe die Katze aus dem Sack gelassen. Er sei richtig erleichtert; dies würde nicht einmal eine Vernunftehe bleiben.“ Andererseits jedoch waren die Würfel zu diesem Zeitpunkt keineswegs schon gefallen, denn noch fehlte die sowjetische Antwort auf den Entwurf einer förmlichen Vereinbarung zwischen Moskau und den Staaten des Dreimächtepaktes, den von Ribbentrop Molotow am Abend des 13. November in die Hände gedrückt hatte. 

Diese traf erst zwei Wochen später in Berlin ein und stellte dann tatsächlich eine Wiederholung von Molotows hochprovokanten territorialen Forderungen dar. Damit hatte sich der Traum von einem gigantischen antibritischen „Kontinentalblock“ zwischen den Küsten der Biscaya und des Gelben Meeres erledigt. Die Folge hiervon waren Hitlers Weisungen Nr. 20 und 21 vom 13. und 18. Dezember 1940, in denen nun sowohl die Vorbereitung eines Feldzuges auf dem Balkan („Unternehmen Marita“) als auch gegen die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“) angeordnet wurde.