© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Nicht mal der Versuch wurde unternommen
DDR-Enteignungen und Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen: Über die sträfliche Passivität der Bundesregierung
Thomas Gertner

Zu keiner Zeit sei von der Bundesregierung auch nur der Versuch unternommen worden, die UdSSR von ihrer Haltung abzubringen. Der ehemalige Botschafter Christian Pauls, 1990 Mitarbeiter im Arbeitsstab des Auswärtigen Amts, ergänzt die Schilderung seines damaligen Kollegen Martin Ney, der damals zudem Redaktionsleiter während der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen war. Ney, heute Botschafter in Indien, beschreibt in einem Artikel in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Band 75, Heft 3; 2015), welch hohen Wert die UdSSR und DDR darauf gelegt hätten, daß die Enteignungen während der sowjetischen Besatzung nicht mehr rückgängig gemacht werden dürfen. Wieder einmal wird der Eindruck vermittelt, die Bundesregierung habe einem Restitutionsausschluß zugestimmt und diesen im Grundgesetz festgeschrieben. Politiker und Behörden werden nicht müde, dies immer wieder als „Totschlagargument“ den Opfern der Boden- und Wirtschaftsreform entgegenzuhalten, die dies für eine Scharade halten.  

Andererseits werden Vermögenseinziehungen aus dieser Zeit durchaus rückgängig gemacht, vorausgesetzt, der damalige Eigentümer wird rehabilitiert (Paragraph 1 Abs. 7 des Vermögensgesetzes). Anders als bei den Vermögenszugriffen vor 1945 und nach 1949 darf die Restitution nur nicht deshalb erfolgen, weil die Wegnahme entschädigungslos erfolgt ist. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht damit gerechtfertigt, daß die UdSSR mit ihrem Aide-Mémoire vom 28. April 1990 Boden- und Wirtschaftsreform mit der in Potsdam zwischen den Siegermächten vereinbarten Bestrafung von Nazi- und Kriegsverbrechern verknüpft hatte. 

Der frühere Spiegel-Redakteur Richard Kiessler, der die Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag und zum Einigungsvertrag publizistisch begleitete, hat mir bekannt, die bundesdeutsche Delegation habe erklärt, aus diesem Grund sei diese Frage nicht verhandelbar. Klaus Kinkel, als Zeuge in der mündlichen Verhandlung vom 23. Januar 1991 vor dem Bundesverfassungsgericht vernommen, sagte hierzu aus, die Bundesregierung habe diesen Standpunkt lediglich zur Kenntnis genommen, ihn aber nicht anerkannt.  

Enteignungen als alliierte Forderungen auslegen

Warum war dies bedeutsam? Es spricht viel dafür, daß alle vier Besatzungsmächte die Übertragung der vollen Souveränitätsrechte von der fortdauernden Unterwerfung des vereinten Deutschlands unter die Potsdamer Beschlüsse abhängig gemacht haben. Hierzu gehörte vor allem die Entnazifizierung und Entmilitarisierung Deutschlands. Um die erklärtermaßen der „Entnazifizierung und Entmilitarisierung des deutschen Volkes“ dienende Boden- und Wirtschaftsreform verfassungsrechtlich festzuschreiben, durfte die Bundesregierung diese Maßnahmen unter keinen Umständen anerkennen, sondern mußte diesen Rechtsstandpunkt einfach nur „zur Kenntnis nehmen“. Hätte der Gesetzgeber nämlich undifferenziert sämtliche Maßnahmen für bestandskräftig und unantastbar erklärt, so wären diese Vermögenszugriffe nach unserem Rechtsverständnis, ja selbst nach demjenigen der UdSSR in der damaligen Situation, als Maßnahmen des Klassenkampfs zu bewerten. Diese hätte Karlsruhe nicht tolerieren können; denn seit dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht von 1956 ist anerkannt, daß jegliche Form von Klassenkampf die Menschenwürde verletzt. Dieser leugnet die Individualität des Menschen und würdigt ihn als gesichtsloses Element einer politisch mißbilligten Gesellschaftsschicht herab. 

Wenn die Bundesregierung die Erklärung der Sowjetregierung nur „zur Kenntnis“ nahm, waren diese Maßnahmen gemäß Grundgesetzartikels 139 verfassungsfest. Der Artikel besagt, daß Maßnahmen „zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ von der Verfassung unberührt bleiben. Dieser ist nur deswegen verfassungsfest, weil es sich nicht um eine verfassungsändernde Norm handelt, sondern von vornherein Bestandteil der Verfassung war. 

In den Beratungen des Parlamentarischen Rates 1949 forderten einige Mitglieder, man solle diese Norm doch einfach streichen, weil sie ein Fremdkörper im Verfassungsentwurf sei. Thomas Dehler, später Justizminister im Kabinett Adenauer, antwortete, er würde ihn gern streichen, aber das gehe nicht. Wie er nämlich selbst im Jahr 1946 bei den Verhandlungen der bayerischen Landesverfassung erkennen mußte, hätte sonst die amerikanische Besatzungsmacht dieser nicht zugestimmt. Vor dem Deutschen Bundestag hat der Abgeordnete Hans-Joachim von Merkatz (Deutsche Partei) diese Norm als einen von Jalta und Potsdam abgeschossenen Pfeil bezeichnet, der „tief in unserem Fleisch steckt“. 

Wollte man also die Boden- und Wirtschaftsreform als solche nach 1990 verfassungsfest machen, mußte zweierlei beachtet werden: Zum einen mußte der Beitritt nach dem Grundgesetz erfolgen, weil es nicht vermittelbar gewesen wäre, wenn in einer neuen Verfassung eines voll souveränen Staates eine Norm mit dem Inhalt des Artikel 139 Grundgesetz beschlossen worden wäre. 

Zum anderen durfte kein Anerkenntnis der Legitimität oder gar der Bestandskraft aller Vermögenszugriffe durch die bundesdeutsche Seite erfolgen, weil ein solcher Hoheitsakt nicht durch diesen Artikel gedeckt gewesen wäre. Denn dadurch, daß die Worte „zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ in Anführungszeichen gesetzt worden sind, hat der Verfassungsgeber zum Ausdruck gebracht, daß sich die Bundesrepublik dem Druck der Westmächte beugen mußte. Diese Formulierung ist von den Militärregierungen der Westmächte dann auch akzeptiert worden.

Jeder Einzelfall hätte geprüft werden müssen

Die bundesdeutsche Delegation hat sich somit bei den Vertragsverhandlungen in jeder Hinsicht korrekt verhalten. Sie war bemerkenswert gut beraten, wobei auffällt, daß der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Roman Herzog, die Vorschrift des Artikels 139 in dem Standardkommentar zum Grundgesetz bearbeitet hat. Es wäre jedoch die Pflicht der Bundesregierung gewesen, ihre Bürger über das zu informieren, was sie ausgehandelt hat und nicht für jedermann ersichtlich auf der Hand lag, und zwar nicht einmal für Rechtsprofessoren. 

Sie hätte darüber belehren müssen, daß für die Opfer jeglicher Entnazifizierungsmaßnahmen, wozu auch die Boden- und Wirtschaftsreform gehörten, der Weg zur Restitution nur über eine Rehabilitierung gehen kann, wobei wie auch seinerzeit in Westdeutschland jeder Einzelfall sorgsam überprüft werden muß. Das hätten die Betroffenen akzeptiert. Denn es wäre völlig inakzeptabel,  Personen wie Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop, die als Großgrundbesitzer auch der Bodenreform unterlagen, deswegen zu rehabilitieren, weil man ihnen ihr Vermögen mit eben dieser Begründung entzogen hatte. In den meisten Fällen waren die Betroffenen jedoch lediglich Angehörige einer gesellschaftlichen Klasse, die den kommunistischen Machthabern „lästig“ war und unter dem Vorwand der Entmilitarisierung und Entnazifizierung Deutschlands gezielt ausgeschaltet wurde. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, ist eine sorgsame Einzelfallprüfung notwendig. Wenn nun diese Prüfung ergibt, daß der Betroffene unschuldig war, ist er förmlich zu rehabilitieren und sein Vermögen zu restituieren. 

Die Bundesregierung hat diese Zusammenhänge sehr geschickt verschleiert und will dann auch noch mit einer fadenscheinigen Begründung die Betroffenen von jeglicher Rehabilitierung ausschließen, weil diese Restitutionsansprüche auslösen würde, die wegen der sowjetischen Vorbedingung aber nicht entstehen dürften. Wenn in Westdeutschland unter Anwendung der Unschuldsvermutung jeder Einzelfall, der sich während der Besatzungsherrschaft ereignet hat, überprüft werden und zur Rückgabe von zu Unrecht eingezogenen Vermögenswerten führen konnte, muß Entsprechendes auch für die vergleichbaren Entnazifizierungsmaßnahmen in der ehemaligen sowjetischen Beszatzungszone gelten. Das Vertrauen zwischen den Betroffenen und der Bundesregierung und dem Bundestag ist durch diese Politik des Vernebelns und der Intransparenz irreparabel zerstört. 






Dr. jur. Thomas Gertner betreut seit 1993 viele Opfer der Enteignungen aus der Zeit zwischen 1945 und 1949, sowohl vor nationalen als auch vor internationalen Instanzen.

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