© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Das Verschwinden der Nacht
Wie die Lichtverschmutzung des Planeten das Uhrwerk des Lebens bedroht
Christoph Keller

Im September 1882 leuchtete Berlins erste Straßenlaterne. Das war der Startschuß für den Siegeszug der öffentlichen Beleuchtung. Eine zivilisatorische Errungenschaft, die allgemein als Fortschritt empfunden wurde, bis sie kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs unangenehme Begleiterscheinungen zeitigte. So mußte die Universitäts-Sternwarte nach Potsdam-Babelsberg umziehen, weil der künstlich erhellte Berliner Nachthimmel präzise astronomische Beobachtungen verhinderte.

Ein Forschungshemmnis, das heute weltweit den Blick ins Universum erschwert. Denn allein seit 1995 ist der Nachthimmel jedes Jahr um fünf Prozent heller geworden, so daß auf dem rund um die Uhr beleuchteten Globus nur noch wenige Gegenden zu finden sind, die, wie die chilenische Atacama-Wüste oder die Gebirgsketten Hawaiis, den Ansprüchen von Astronomen genügen. Aber selbst dort stimme, wie Axel Schwope vom Potsdamer Leibniz-Institut für Astrophysik klagt, die zunehmende Helligkeit bedenklich.

Vögel fallen auf künstliche Helligkeit herein

Was Schwope als Auswirkungen einer eigentümlichen Variante von Umweltverschmutzung, als „Lichtverschmutzung“ wahrnimmt, ist noch nicht allzu lange Gegenstand wissenschaftlicher Neugierde. Wie Mounia Meiborg in ihrem Überblick zu Untersuchungen über das Verschwinden der Dunkelheit schildert (Leibniz-Journal, 2/15), förderte das Bundesforschungsministerium erst seit 2010 ein Projekt unter dem Titel „Verlust der Nacht“, das seit 2014 als Verbund von sechs Leibniz-Instituten, drei universitären Einrichtungen und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung fortbesteht. Angesichts dessen, was dieser interdisziplinäre Zusammenschluß binnen kurzem als ökologische Schadensbilanz der „Nachthelligkeit“ ausweist, nehmen sich die Sorgen des Astrophysikers Schwope allerdings marginal aus.

Betroffen sind Mensch und Tier gleichermaßen, denn die ganze Evolution sei, wie Meiborg die Forscherin Sibylle Schroer vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei zitiert, auf dem Tag-Nacht-Rhythmus aufgebaut, auf den Unterschied zwischen Hell und Dunkel, der das „Uhrwerk des Lebens“ sei.

An der Vogelfauna ließen sich die Folgen der künstlich erzeugten Manipulationen dieses Uhrwerks anschaulich studieren. Für Vögel, die in Städten brüten, simuliere die künstliche Helle schon im Winter, daß die Tage länger werden und es Zeit für die Fortpflanzung ist. Nach der Temperatur, so Schroer, sei Licht der wichtigste Faktor, der Lebewesen eine saisonale Veränderung anzeigt. Gerate diese natürliche Synchronisation zwischen Licht, Fortpflanzung und Futterangebot dann aus dem Gleichgewicht, wenn Vögel zu früh mit dem Brutgeschäft beginnen, führe jeder Kälteeinbruch zum Futtermangel und schnurgerade zum Nachwuchstod.

Verdacht: Zuviel Licht zur Unzeit erhöht Krebsrisiko

Am schlimmsten irritiere zunehmende Helligkeit nachtaktive Tiere, die ihre Sinne auf Dunkelheit geschärft haben. Wie etwa Wasserflöhe, die den Schutz der Nacht suchen, um Freßfeinden zu entgehen. Manche Seen seien aber inzwischen so hell, daß diese Kleinstlebewesen nicht mehr an die Oberfläche kommen, um in oberen Gewässerschichten Algen zu vertilgen. In solchen öffentlich kaum registrierten Prozessen spiegele sich für Schroer eine Entwicklung, die in den Rückgang von Biodiversität mündet: Besonders viele Arten, die ohnehin auf der Roten Liste stehen, könnten durch künstliches Licht verursachte Veränderungen ihrer ökologischen Nischen nicht flexibel parieren.

Zu den vielen Verlierern der Lichtüberflutung zählt demnach auch der Mensch. Denn insbesondere bläuliches Licht hemmt die Herstellung des Hormons Melatonin, das der Organismus von Menschen und anderen Säugetieren nachts produziert. Zuviel Lichteinfluß, so fand Barbara Griefahn, emeritierte Professorin für Chronobiologie am Dortmunder Leibniz-Institut für Arbeitsforschung heraus, breche die Melatonin-Synthese ab. Mit einem fatalen Effekt, da dann das Hormon fehle, das Tumorwachstum eindämmt. Entsprechend erhöhe sich das Krebsrisiko. Eine vom französischen Epidemiologen Pascal Guénel durchgeführte Reihenuntersuchung von 2.600 Krankenschwestern, die mehr als vier Jahre lang Nachtschicht machten und zwischen Tag- und Nachtarbeit wechselten, erbrachte ein um 30 Prozent erhöhtes Brustkrebsrisiko. Bei Frauen, die vor der ersten Schwangerschaft mit der Nachtarbeit begannen, lag das Risiko sogar um 50 Prozent höher.

Auch bei Stoffwechselkrankheiten, Diabetes, Eßstörungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Komplikationen liegt für Griefahn der Verdacht nahe, daß sie mit Nachtarbeit in Verbindung zu bringen seien. Indes ist die Forschung hier noch im Fluß, da neben zuviel künstlichem Licht auch ein verschobener Aktivitätsrhythmus dafür verantwortlich sein könne. Nicht zweifelhaft sei aber, daß Nachtschichten, wenn sie schon in Krankenhäusern, Betrieben, Verkehrsflugzeugen oder Polizeistationen unabdingbar nötig seien, „soweit wie möglich reduziert“ gehörten.

Wie ein solcher Kurswechsel in der modernen Arbeitswelt zu realisieren sei, darüber schweigen sich die Streiter gegen diese neue Form der Umweltverschmutzung bisher aus. Dank einer von Leibniz-Forschern entwickelten Applikation (www.verlustdernacht.de) können potentielle Aktivisten auf diesem Gebiet zwar jetzt als „citizen scientist“ den Grad der Lichtverschmutzung an ihrem Wohnort messen. Und es gibt in Deutschland schon drei Sternenparks – kleine Areale, deren Dunkelheit geschützt wird. Da jedoch nach der Schätzung Axel Schwopes die Hälfte der Mitteleuropäer von zu Hause aus die Milchstraße nicht mehr sehe und so um ein „elementares Naturerlebnis“ betrogen werde, ist mehr als zweifelhaft, ob das Verschwinden der Nacht noch aufzuhalten ist.