© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Kanzlerin ohne Kompaß
Zehn Jahre an der Macht: Mit Merkel ist Wendigkeit zum Regierungsprinzip geworden
Konrad Adam

Seit Helmut Kohls leichtfertiger Ankündigung einer geistig-moralischen Wende wartet die Welt auf das versprochene Ereignis. Sie wird noch lange und vergebens warten müssen, denn so ein Wunder ist im Katalog der CDU nicht vorgesehen. Es würde ja die Rückbesinnung auf Tugenden verlangen, die in der Union nicht mehr geschätzt werden, Eigenschaften wie Skepsis, Vorsicht und Mißtrauen gegen dumme Sätze wie „Wir schaffen das!“ Zu Recht hat die CDU mehr als nur einmal ihrer landläufigen Etikettierung als konservativer Kraft widersprochen; tatsächlich ist sie zu einer revolutionären Bewegung geworden, die es blutig ernst meint, wenn ihre Vorsitzende erklärt, das Land bis zur Unkenntlichkeit verändern zu wollen.

John Stuart Mill hat die Tories einmal die dümmste von allen Parteien genannt: zu jeder Einzelfrage hätten sie ein Argument dafür und eins dagegen. Auf der Gegenseite ist das nicht ohne Grund als Kompliment verstanden worden. Tatsächlich haben die Konservativen zu allen Fragen von Gewicht ganz unterschiedliche Standpunkte vertreten: sie waren erst für, dann gegen, dann wieder für den freien Handel, haben Schutzzölle gefordert und wieder abgelehnt, und das nicht nur in England, sondern auch im Deutschen Reich. Margaret Thatcher und Helmut Kohl durften sich als gute Konservative fühlen, als sie in Fragen der Steuer-, der Familien- oder der Umweltpolitik wechselnde, ja widersprüchliche Ziele verfochten.

Nichts anderes tut Angela Merkel auch, wenn sie die rigorose Wende in der Energiepolitik genauso schnell und ungerührt vollzieht wie die in Sachen Wehrpflicht. Man hat ihr das vorgehalten, als Prinzipienlosigkeit angekreidet und vom Verkauf des Tafelsilbers gesprochen; insoweit allerdings zu Unrecht, als Konservative nie lange gezögert haben, das Silber zu verscherbeln, wenn der Verkauf etwas brachte. Großzügigkeit im Grundsätzlichen wird für denjenigen keine Zumutung sein, der Pragmatismus für eine Tugend hält; und das tut jeder wahre Konservative. Mit Blick auf die Wirklichkeit fällt es ihm nicht schwer, auf Illusionen zu verzichten.

Natürlich weiß auch Angela Merkel, was sie den Deutschen, die Wahlentscheidungen gern mit Glaubensbekenntnissen verwechseln, schuldig ist. Deswegen spricht sie gelegentlich von ihrer Verpflichtung, Richtungen zu bestimmen und Inhalte vorzugeben; deshalb „bezieht“ sie Standpunkte, „bekennt“ sie sich zu irgendwelchen Überzeugungen. Wie es mit denen steht, war aber doch schon bald nach der Wende zu erkennen, als es die Pfarrerstochter zuließ, daß ihr Landesverband, der von Mecklenburg-Vorpommern, die Verpflichtung auf das christliche Sittengesetz ostentativ aus der Satzung strich. Nichts habe sie nach ihrem Abschied aus der DDR stärker belastet als der Umgang mit Leuten, „die eine feste, unumstößliche Meinung hatten“, erklärte sie damals. Das war wohl ehrlich.

Man könnte das als Ausdruck konservativer Unvoreingenommenheit betrachten, wenn hinter ihrer Wendigkeit mehr zu entdecken wäre als der nackte Wille zur Macht. Es geht ums Durchregieren, um sie und die Partei, hinter der das Schicksal von Land und Leuten zurückzutreten hat. Mochte sich die Energiewende noch mit der Aussicht verbinden, Deutschland zum Marktführer bei Windrädern und Sonnenkollektoren zu machen, und ließ sich der Umbau der Bundeswehr zur Berufsarmee noch mit den Anforderungen der modernen, technisch anspruchsvollen Kriegsführung begründen, so scheiden solche Argumente angesichts des Flüchtlingsdramas aus. Das patzige „Ist mir egal!“, mit dem Frau Merkel ihre Untätigkeit zu bemänteln suchte, sagt schon alles.

Wenn es etwas gibt, was Konservativen gegen den Strich geht, dann die Verachtung von Recht und Gesetz: also genau das, was aus Angela Merkels frivolen Kommentaren spricht und was von der konservativ entkernten CDU gedankenlos nachgesprochen wird. Die Partei hat ihren Kompaß verloren; sie segelt im Kielwasser einer revolutionären Macht, die Fortschritt und Wettbewerb, Wachstum und Bewegung verspricht. Die Wirtschaft will ja nicht erhalten, sondern verändern, schöpferisch zerstören, wie die bekannte Formel lautet. Sie will den Tempel des Herren abbrechen und in drei Tagen neu errichten; das aber ist das Werk des Teufels.

Die Wirtschaft hat keine Schwierigkeiten, diesem Teufel zu dienen. Als einer ihrer akademischen Wortführer zitiert Carl Christian von Weizsäcker in seinem Loblied auf den restlos freien Handel ausführlich und mit allen Zeichen der Zustimmung aus dem Evangelium der Progressiven, dem Kommunistischen Manifest. Die Bourgeoisie könne gar nicht anders, als die bestehenden Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren, „die Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisie-Epoche aus“. Die allerdings – und das unterscheidet Weizsäcker von Marx und Engels – die Revolution nicht bloß vorbereiten, sondern selbst durchführen und vollenden soll.

Man kann das nennen wie man will: konservativ ist es nicht. Die Lehre vom Primat der Wirtschaft ist zum revolutionären Dogma erstarrt, dem die Unionsparteien huldigen. Doch Dogmen sind nichts für einen wahren Konservativen, Revolutionen schon gar nicht; er ist politisch heimatlos geworden. Eine neue Heimat könnte er dort finden, wo Realismus, Augenmaß und Verantwortungsgefühl in Geltung stehen. Das wäre dann der Zukunftskonservatismus, von dem schon Thomas Mann geträumt hatte.