© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Claudia Dantschke warnt davor, den Islamismus in Deutschland zu unterschätzen
Die Kassandra
Fabian Schmidt-Ahmad

Über Arbeitsmangel kann sich Claudia Dantschke wirklich nicht beklagen. Seit Jahren warnt „Deutschlands bekannteste Extremismusexpertin“ (Spiegel), die Ausbreitung des Salafismus aus dem sich schließlich islamistische Kämpfer und Terroristen rekrutierten, werde hierzulande unterschätzt. Zum Beispiel die Koranverteilung in Fußgängerzonen, gegen die es kaum gesellschaftlichen Protest gab. Laut Dantschke organisiert von Gruppen, „die Dschihad und Gewalt befürworten“, zwar nicht dazu aufrufen, „sie aber legitimieren“ und mit der Verteilaktion nun „sowohl die nicht gewaltbereite politisch-missionarische Szene dominieren, als auch die der Brandstifter (für) den bewaffneten Kampf“. Paris läßt grüßen. 

Diejenigen, die den Ernst der Lage bereits begriffen haben, sind die unmittelbar Betroffenen: die Familienangehörigen jener, die sich dem Islamismus zuwenden. Sie finden Hilfe bei Dantschkes Berliner Projekt „Hayat“ („Leben“). Da ist der türkische Vater, dessen Sohn nicht mehr mit ihm spricht, schließlich verschwindet und eine Textnachricht aus Syrien schickt. Da ist die deutsche Mutter, deren Tochter auf einmal nur noch vollverschleiert aus dem Haus geht, weil ihr neuer Freund das so wünscht. 

Dantschke, 1963 in Leipzig geboren, studierte das in der DDR eher unübliche Fach Arabistik, arbeitete bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN. Die DDR ist vergangen, die Liebe zum nahöstlichen Kulturraum ist geblieben. In den neunziger Jahren betrieb sie in Berlin den winzigen Fernsehsender Aypa: Investigative Berichte aus islamischen Parallelwelten, die deutsche Behörden gerne übersahen.

Fast permanent klingelt Dantschkes Telefon. Welche Gruppierung sich in dem verwirrenden Kräftekarussell in Syrien gerade mit wem verbündet, von wem getrennt habe; Argumentationshilfen für besorgte Eltern, gestützt mit Koranzitaten; das direkte Gespräch mit dem Terrorverdächtigen: Dantschke behält den Überblick, gibt Rat, knüpft Verbindungen, unterstützt Selbsthilfegruppen.

Dantschkes größte Feinde: radikale Prediger und die Zeit. Denn nur ein kurzes Zeitfenster habe man in dem beginnenden Radikalisierungsprozeß, von den ersten Auffälligkeiten bis zur gefestigten, ideologischen Vereinnahmung, in der der Betroffene noch zu erreichen sei. Das wissen auch die Prediger, die auf Schulhöfen, in Moscheen und Gefängnissen auf Beutefang sind.

Die Zeit arbeitet für sie, denn die radikale Szene in Deutschland wächst rasant. 2012 zählte der Verfassungsschutz 4.500 Salafisten. Zwei Jahre später waren es bereits 7.000. Und mit 450 Radikalen hierzulande rechnet er, denen Anschläge wie in Paris zuzutrauen sind. Die Entstehung einer islamistischen Jugendkultur, des „Pop-Dschihad“, wie sie diese nennt, haben wir zugelassen, warnt Claudia Dantschke. Einerseits eine Protestkultur wie andere auch – andererseits bei weitem tödlicher.