© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Paris im Ausnahmezustand
Nach dem Terror: Präsident François Hollande will die Sicherheitskräfte aufstocken / Anzahl islamistischer Gefährder ist größte Herausforderung
Friedrich-Thorsten Müller

Nach der verheerenden Anschlagsserie in Paris mit bisher 132 Toten und 350 Verletzten ist Frankreichs Präsident François Hollande bemüht, den Eindruck eines entschlossenen Staatschefs zu vermitteln. Noch in der Nacht der Angriffe auf das Pariser Nachtleben und das Fußballstadion (siehe nebenstehende Chronologie) ließ er die wegen des Weltklimagipfels in Paris bereits zuvor eingeführten Grenzkontrollen verschärfen. Außerdem rief er für drei Monate den Ausnahmezustand aus und beorderte 1.500 Soldaten nach Paris.

Des weiteren verstärkte Frankreich am Wochenende seine Luftschläge gegen den Islamischen Staat in Syrien und verlegt den Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ ins östliche Mittelmeer, um die Intensität der Luftangriffe in den nächsten Tagen zu verdreifachen. 

In seiner Rede am Montag vor dem seit Jahren erstmals wieder symbolträchtig nach Versailles einberufenen Kongreß aus  beiden Parlamentskammern, erklärte Hollande, Frankreich befinde sich im Krieg. Entsprechend forderte Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian am Dienstag unter Berufung auf Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags offiziell die Unterstützung der anderen EU-Staaten an. Dort heißt es: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“ 

Es wird davon ausgegangen, daß Frankreich sich dadurch vor allem in seinem militärischen Engagement – etwa in Mali – entlasten lassen möchte, um Kapazitäten frei zu bekommen. Eine weitere Initiative Präsident Hollandes gilt dem Weltsicherheitsrat, in dem Frankreich eine gemeinsame Resolution und Koalition zur Bekämpfung des IS anstrebt.

Nun herrscht der Eindruck, es könne jeden treffen

Indes können all diese Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Angriff der islamistischen Terroristen nicht einmal ein Jahr nach den Charlie-Hebdo-Attentaten Frankreich „kalt erwischt“ hat. Zwar konnte noch Schlimmeres verhindert werden, da das Eindringen mehrerer Selbstmordattentäter in das mit 80.000 Zuschauern besetzte Stade de France mißlang. Trotzdem glaubten bis zu diesem Freitag viele Franzosen, die Vorbereitungen eines Attentats solchen Ausmaßes würde den Sicherheitskräften nicht entgehen. Außerdem offenbarte sich die prekäre Situation darin, daß die Polizei mindestens einen der Attentäter – den 26jährigen Salah Abdeslam – auch noch vier Tage nach der Tat nicht fassen konnte.

Obwohl einige Spuren der Tatvorbereitung nach Belgien, in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek führen (Seite 9), waren nach derzeitigem Ermittlungsstand fünf der mindestens acht Attentäter französische Staatsbürger arabischer Herkunft. Das heißt, sie gehörten zumindest teilweise zu den 11.400 Personen, die laut Figaro von den Geheimdiensten als Gefährder geführt werden. Auch wenn die sozialistische Regierung nun ankündigt, die Zahl der für deren Überwachung abgestellten Polizisten von bisher 6.500 Beamten um weitere 5.000 aufstocken zu wollen, wird dies auch in Zukunft bei weitem nicht ausreichen. Experten veranschlagen die Zahl der für eine zuverlässige Überwachung notwendigen Beamten eher auf 20.000 bis 40.000. 

Frankreich muß also, etwa durch Ausweisungen, die Zahl der Gefährder reduzieren. Der nun auch von Hollande aufgegriffene Plan, Islamisten per Gesetzesänderung leichter den französischen Paß zu entziehen, wird nur einen kleinen Beitrag zur Lösung leisten können. Trotz aller Zustimmung zu diesen Sofortmaßnahmen setzte sich die französische Opposition noch in der Tatnacht von François Hollande ab. Nicolas Sarkozy, Parteichef der bürgerlichen Republikaner, äußerte die Hoffnung, daß die Regierung nun „endlich auf uns hört“. Und Marine Le Pen, Vorsitzende des rechten Front National (FN), forderte umgehend die dauerhafte Wiedereinführung von Grenzkontrollen sowie einen sofortigen Asyl-Stopp.

Vordringlichste Aufgabe für den Staatspräsidenten dürfte im Moment aber sein, die Sicherheit für den anstehenden Weltklimagipfel in Paris sowie die Regionalwahlen am 6. und 13. Dezember zu gewährleisten. 

Damit wird sich das Bild von einem Land im Kriegs- und Belagerungszustand in den kommenden Wochen wohl noch verfestigen. Wie fatalistisch die Stimmung im Land ist, sieht man daran, daß diesmal – im Gegensatz zu den Charlie-Hebdo-Attentaten – keine Demonstrationen mit Millionen Teilnehmern denkbar sind. Auch die Reaktion der Muslime in Frankreich ist eher resignierend. Zwar lehnte der Rat der Muslime in Frankreich (CFCM) umgehend öffentlichkeitswirksam die „niederträchtigen und schändlichen Angriffe mit größtem Nachdruck“ ab. Aber jedem ist klar, daß das Mißtrauen gegen die mindestens fünf Millionen Muslime in Frankreich nun noch deutlich größer wird. Bisher galten die meisten islamistischen Anschläge französischen Juden oder eben einer Satirezeitung, die sich massiv mit dem Islamismus angelegt hatte. Nun herrscht der Eindruck vor, daß es jeden treffen kann.

Absehbar deutliche Auswirkungen werden die sich verschärfende Sicherheitslage und der forcierte Kriegseinsatz in Syrien auf die französischen Staatsfinanzen haben. Zwar ist durch die Anschläge nicht mit einer Rezession zu rechnen, doch die Staatsausgaben werden deutlich zunehmen. Kriegseinsätze kosten viel Geld, und auch die geplanten Stellenstreichungen beim Militär sollen nun kassiert werden. Weitere 2.500 zusätzliche Stellen wird das Justizministerium für Gerichtsdienste, Gefängnisse und den Zoll schaffen. 

Die Ansage von Präsident Hollande ist klar: „Die Ausgaben werden steigen und müssen steigen. Der Sicherheitspakt ist wichtiger als der Stabilitätspakt.“ Dies hört sich nicht wie ein Signal nach Brüssel und Berlin an, Paris werde auf absehbare Zeit das Drei-Prozent-Neuverschuldungskriterium des Euro-Stabilitätspaktes einhalten wollen.





Chronologie

13. November 2015, 21.20 Uhr

Vor dem Pariser Stade de France, in dem 80.000 Zuschauer das Freundschaftsspiel Frankreich – Deutschland anschauen, sprengt sich ein Selbstmord-attentäter in die Luft. Sechs Minuten später zündet in der Nähe ein weiterer Mann seine Sprengstoffweste. 

ab 21.30 Uhr

Mehrere Täter schießen auf Restaurants und Bars im 10. Arrondissement: mindestens 36 Tote. Ein Täter sprengt sich vor einer Brasserie in die Luft.

21.49 Uhr

Drei Männer mit Sturmgewehren dringen in den Konzertsaal Bataclan ein und schießen in die Menge, die dort zu einem Konzert der Band Eagles of Death Metal zusammengekommen ist. Die Angreifer nehmen Geiseln und rufen „Allahu Akbar“.

23.54 Uhr 

Präsident Hollande erklärt den Ausnahmezustand. 

00.20 bis 00.50 Uhr

Die Polizei stürmt die Konzerthalle Bataclan. Ein Terrorist wird erschossen, die anderen beiden zünden ihre Sprengstoffgürtel. Hier gibt es 89 Tote und zahlreiche Verletzte.