© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Das Grundrauschen wird lauter
Innere Sicherheit: Polizei und Geheimdienste gehen von 420 potentiellen islamistischen Attentätern in Deutschland aus und halten einen Anschlag für eine Frage der Zeit
Marcus Schmidt

Am Montag hielt der Terror Berlin in Atem. Bis zum Mittag rückte die Polizei viermal mit einem Großaufgebot aus, um ganze Straßenzüge  abzuriegeln. Anlaß waren „verdächtige Gegenstände“. Geräumt wurden unter anderem die Straßen rund um das „Maison de France“ am Kurfürstendamm sowie der Gendarmenmarkt in Mitte. 

Auch wenn sich die Einsätze als falscher Alarm herausstellten: Sie zeigen, wie groß die Nervosität nach den Anschlägen von Paris ist. Die deutschen Sicherheitsbehörden stellen sich längst nicht mehr die Frage, ob es in Deutschland einen islamistischen Anschlag geben wird – sondern wann. Polizei und Geheimdienste sind nicht unvorbereitet. Sie schätzen die Gefährdungslage seit Jahren als hoch ein. Besonders seit 2013 habe das „Grundrauschen“ in der islamistischen Szene zugenommen. Nicht zufällig stand das Thema in dieser Woche auch auf der Tagesordnung der traditionellen Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA). 

Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht den Islamismus in seinen Jahresberichten regelmäßig als größte Gefahr für die innere Sicherheit. Die Behörde rechnet rund 44.000 Personen islamistischen Organisationen zu. 420 Islamisten werden von den Sicherheitsbehörden derzeit als sogenannte Gefährder geführt. Das bedeutet: Ihnen trauen die Experten zu, jederzeit Anschläge zu verüben. Die Zahl der Gefährder ist in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Anfang des Jahres war BKA-Chef Holger Münch noch von 270 potentiellen Attentätern ausgegangen. Außerdem gibt es 320 „relevante Personen“. Dabei handelt es sich um gefährliche Islamisten, die als Unterstützer bei Anschlägen in Erscheinung treten könnten. Die Gefährder stehen nach den Anschlägen von Paris unter besonderer Beobachtung. Doch die Überwachung der Betroffenen führt die Behörden an ihre personellen Grenzen.

Für die Sicherheitsbehörden völlig unkalkulierbar ist derzeit, ob und wenn ja in welchem Maße Islamisten als Asylbewerber nach Deutschland kommen. Für Aufregung sorgte am Montag die Nachricht von der Verhaftung eines Asylbewerbers aus Algerien im nord-rhein-westfälischen Arnsberg. Der Mann soll bereits vor Tagen gegenüber Asylbewerbern aus Syrien die Attentate in Paris vorhergesagt haben. „Die Ankündigung der Anschläge paßte von der Zeit her. Wir müssen nun prüfen, ob es sich um eine Spinnerei oder um eine Information mit tatsächlichem Hintergrundwissen handelt“, sagte Oberstaatsanwalt Werner Wolff der Rheinischen Post. Sollte sich der Verdacht bestätigen, erhielte die Asylkrise eine völlig neue Dimension.

Am Tag nach den Anschlägen in Paris informierte das Bayerische Landeskriminalamt die Öffentlichkeit zudem über einen spektakulären Waffenfund. Bereits am 5. November hatten Schleierfahnder einen Mann aus Montenegro mit seinem Auto gestoppt. In dem Fahrzeug fanden die Beamten ein ganzes Arsenal: Neben acht Kalaschnikows und Pistolen auch Munition und Sprengstoff. Als Ziel hatte der Verdächtige Paris in sein Navigationsgerät eingegeben. Ob ein Zusammenhang mit den Anschlägen von Freitag besteht, ist bislang nicht bekannt.

 Ein besonderes Augenmerk legen Polizei und Verfassungsschutz auf Rückkehrer aus Syrien und dem Irak. Knapp 800 Personen aus Deutschland haben sich nach Zählungen der Behörden bislang islamistischen Organisationen im Bürgerkriegsgebiet angeschlossen. Mittlerweile wächst die Zahl der Rückkehrer. Im März zählte die Bundesanwaltschaft 68 Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Personen, die im Nahen Osten an Kampfhandlungen teilgenommen – und möglicherweise Kriegsverbrechen begangen haben. Aktuelle Zahlen gibt die Behörde derzeit nicht bekannt. Doch die Tendenz sei steigend, sagte eine Sprecherin der JUNGEN FREIHEIT.

Wie schwierig die juristische Verfolgung von Rückkehrern ist, zeigte Ende Oktober das Urteil in einem Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof. Die Richter lehnten den Antrag der Bundesanwaltschaft ab, eine zum Islam konvertierte Deutsche, die sich in Syrien der islamistischen Al-Nusra-Front angeschlossen hatte, wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu verurteilen. Die Frau habe sich zwar in Syrien an Waffen ausbilden lassen, sei aber nicht an Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Der Bundesgerichtshof bestätigte stattdessen das Urteil des Landgerichts München. Dieses hatte die Frau zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt – weil sie ihre minderjährigen Töchter ohne Einwilligung des Vaters mit nach Syrien genommen hatte.