© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Grüße aus Paris
„Lebst du noch?“
Albrecht Rothacher

Ein Freitagabend wie anscheinend jeder andere. Um 19 Uhr verlasse ich das Ministerium, alles unter Kontrolle, trinke auf dem Heimweg noch zwei Bier und lese im Café unlustig noch einen schlechten Roman: Michel Tourniers „Freitag oder im Schoße des Pazifik“. Eine politisch korrekte Robinsonade. Denke mir, wie konnte sich so ein Müll so gut verkaufen und jede Menge Preise einheimsen? 

Um 23 Uhr ruft mich meine Frau aus Brüssel an: „Lebst du noch?“ Ich schalte das Fernsehen an. Unzählige Tote und Verletzte  bei vier gleichzeitigen Anschlägen. Ach deshalb das andauernde Sirenengeheul. Ausnahmezustand und Ausgangsperre – an die sich freilich niemand hält. Alle öffentlichen Veranstaltungen, der Wahlkampf der Regionalwahlen abgesagt. Grenzkontrollen. Noch weiß niemand, ob alle Terroristen tot sind oder noch frei herumlaufen.  Genau das, was jeder schon lange erwartete: Simultananschläge auf nicht schützbare weiche Ziele: Musikkonzerte (Musik: unislamische Satanei!), Sportveranstaltungen, Straßencafés (Alkohol!), alles was Spaß macht.

Am nächsten Morgen machen Hollande und sein Kabinett eine Krisensitzung, was sonst? Er spricht vom Kriegszustand und hartem Zurückschlagen. Militär und Polizei werden haufenweise nach Paris beordert.

Der Freund einer bulgarischen Kollegin ermordet. Das Grauen wird langsam persönlich.

Drei Tage später. Immer noch dauerndes Sirenengeheul. Fahnen auf Halbmast. Selbst vor der Ministeriumskantine Ausweiskontrolle und Posten mit Maschinenpistole. Offizielle Schweigeminuten. Diesmal schreit niemand mehr „Je ne suis pas Charlie“, zu viele junge Menschen wurden wahllos hingerichtet.

Ich erfahre, daß der Freund einer bulgarischen Kollegin ermordet wurde. So wird das Grauen langsam persönlich. Sie haben im Osten, im lebenslustigen 10. und 11. Bezirk zugeschlagen. Ich wohne und arbeite im nobleren 7. Bezirk. 

Dort ging in den fünfziger und sechziger Jahren die Post ab. Dennoch das Gefühl: Du bist noch einmal davongekommen. Aber wie lange soll dieser Ausnahmezustand noch anhalten? Das Reservoir der Terroristen in dieser grenzenlosen EU ist unerschöpflich, die weichen Ziele sind es auch. Und die Möglichkeiten des staatlichen Schutzes sind endlich. Aber natürlich frage ich mich: Was sollen 200 schwer bewaffnete Soldaten vor einem leeren Parlamentsgebäude – leere Gesten einer Machtdemonstration der Ohnmacht.