© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Wer bestehen will, übt von ganz allein
Spiele und kämpfe: „El Sistema“ oder Die Frage, wie Musik die Gesellschaft verändern kann
Jens Knorr

Viele Freunde klassischer Musik kennen Gustavo Dudamel, den charismatischen Dirigenten, der im Feuilleton sogar als Kandidat für die Nachfolge von Simon Rattle als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gehandelt wurde, schnell aber bei seinem Orchester, dem Los Angeles Philharmonic, verlängert hat. Doch wer kennt Edicson Ruiz, der mit 17 Jahren Kontrabassist der Berliner Philharmoniker wurde, ihr jüngstes je aufgenommenes Mitglied? Wer den Violinisten Aléxis Cárdenas oder die Pianistin Gabriela Montero? Sie und viele andere haben eines gemeinsam: Sie sind Kinder der „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquesta Juveniles e Infantiles de Venezuela“ (FESNOJIV) oder „El Sistema“.

Das Musikprojekt „El Sistema“ ist ein Kind von José Antonio Abreu, dem Komponisten, Ökonomen, Politiker, vor allem aber Pädagogen, der in Deutschland nahezu unbekannt ist. Abreu, 1937 in eine Familie italienischer Herkunft hineingeboren, studiert Musik am Konservatorium Caracas und an der Katholischen Universität Ökonomie. Seine Karriere führt den Wirtschaftswissenschaftler in hohe parlamentarische und ministerielle Positionen, hinter universitäre Vorlesungspulte und den Musiker immer wieder auf Konzertpodien, als Dirigent, Organist, Cembalist, Pianist.

Musik kennt Individuen nur in Gesellschaft

Zwei gesellschaftliche Mißstände bringen den Generaldirektor des Nationalen Kulturinstituts Abreu zum Jahreswechsel 1974/75 zu dem Entschluß, ein Jugendorchester zu gründen. Es sind zum einen die fehlenden Berufsaussichten für venezolanische Musiker. Die führenden Positionen des Musikbetriebs wie auch fast alle Stellen in den beiden venezolanischen Orchestern sind mit Nicht-Venezolanern, mit „Musiksöldnern“, besetzt. Es sind zum andern Armut, Kriminalität, Perspektivlosigkeit der Jugend in den Barrios, den Elendsvierteln des Landes. Außer der katholischen Soziallehre und dem Patriotismus weiß sich Abreu einem grundlegenden Prinzip verpflichtet: Musik kennt Individuen nur in Gesellschaft!

Am 12. Februar 1975 beginnt in einer Tiefgarage von Candelaria, einem Stadtteil von Caracas, mit zuerst elf Teilnehmern die Arbeit eines neuen Orchesters, in dem jeder ohne Aufnahmeprüfung und Vorkenntnisse mitspielen darf. Das ist die Keimzelle der Musikbewegung „El Sistema“, die das Musiksystem Venezuelas und darüber hinaus das Land verändern und in die Welt ausstrahlen sollte – zuerst chauvinistisch ignoriert, dann erstaunt registriert, endlich begeistert affirmiert und seit neuestem vehement kritisiert. Und es ist der Anfang des Jugendorchesters, das unter dem Namen Simón Bolívars, den es seit 1978 trägt, weltberühmt werden wird.

Abreus pädagogischer Ansatz stellt Lehren und Lernen auf den Kopf oder vom Kopf auf die Füße, je nach Standort des Betrachters. Ausbildung und Ausübung, Lernen und Lehren erfolgen in selbstverständlichem Wechselspiel und in inhomogenen Lerngruppen. Wer vier Töne spielen könne, sagt Abreu, der könne demjenigen, der nur zwei spielen kann, schon zwei neue beibringen. Einzel- und Gruppenunterricht sind nicht Voraussetzung für das Zusammenspiel aller, sondern dessen notwendige Ergänzung. Wer im Ensemble bestehen will, der übt von ganz allein.

Und spätestens hier wird Abreus Musikprojekt als Sozialprojekt kenntlich. Musizieren ist soziales Interagieren, es weckt Selbstachtung, setzt Ziele, ermöglicht Identitäten, gibt Hoffnung. Kinder und Jugendliche sollen in der und durch die Musik Gemeinschaft erfahren, gefordert und gefördert werden, ohne je auf Grund von Unbegabtheit disqualifiziert zu werden. Es ist verboten „Das kann ich nicht!“ zu sagen.

Abreus Konzept erfordert tiefergehende Strukturen als die eines Orchesters. Die Gründung einer eigenen Ausbildungsstätte, des Conservatorio de Música Simón Bolívar, im Jahre 1975 ist nur folgerichtig. Aus den ausgebildeten Schülern rekrutieren sich die ersten Lehrer neu eingerichteter Orchestermusikschulen im Land, sogenannter Núcleos. Die erste eröffnet 1977. Diese sind formal und organisatorisch selbständig, soweit das unter Führung des Meisters der Inszenierung und Selbstinszenierung Abreu möglich ist. Der geht gegen Widerstände aller Art und öffentliche Angriffe der venezolanischen Musikpäpste auf sein Ausbildungssystem an, wirbt bei Vertretern aus Verwaltung und Politik Fördermittel ein, nicht für kulturelle, sondern für Bildungszwecke, Mittel für Gewaltprävention, überführt sein Projekt 1979 in ein Stiftungsmodell, eben jene FESNOJIV. Und erreicht endlich Förderung durch den venezolanischen Staat, durch die Wirtschaft und durch internationale Institutionen.

Erste Auslandsreisen machen das Orchester international bekannt. Namhafte Musiker aus aller Welt sind überrascht von seiner künstlerischen Qualität und kommen regelmäßig zum Arbeiten. Die erste Deutschland-Tournee des Orchesters im Jahr 2000, auf Einladung der Jeunesses Musicales Deutschland, bringt den Durchbruch in Europa, den Anschluß an den internationalen Musikbetrieb. Und den Beginn der Weltkarriere von Gustavo Dudamel.

Das Simón Bolivar Youth Orchestra ist nur eines von vielen Orchestern des Projekts. Es ist nicht „El Sistema“, wenn auch sein Aushängeschild, hinter dem das Projekt zu verschwinden droht. „El Sistema“, das sind die vielfältigen Initiativen aus den Núcleos: die Papierorchester, aus der Not fehlender Instrumente geboren, in denen Kinder drei bis fünf Monate an das Tun der Instrumentalisten im Orchester herangeführt werden, oder der Aufbau und Unterhalt eigener Instrumentenwerkstätten, wiederum mit Ausbildungs- und Lehrbetrieb, oder die Arbeit mit jugendlichen Straftätern oder mit behinderten Kindern, speziell mit sprach- und gehörgeschädigten Kindern im „Coro de Manos Blancas“, dem „Chor der weißen Hände“, der seit 1995 besteht.

Sozialreformen mit Petro-Dollars subventioniert

Mit den Probespielen für die weiterführenden Orchester beginnt ein Ausleseprozeß unter den jungen Musikern. Wer es in das Simón Bolivar Youth Orchestra geschafft hat, darf im internationalen Musikgeschäft ganz oben mitmischen. Aber war alle elementare Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen in den Barrios dafür gedacht?

Gegen „falsche Professionalisierung“ erhebt Andreas Wittmann, Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker, seine Stimme. Der englische Musikwissenschaftler Geoffrey Baker kritisiert fehlende Belege für die soziale Wirksamkeit von „El Sistema“ sowie autokratische, hierarchische Strukturen und undurchsichtiges Finanz-Management des „philantropischen Ungeheuers“ (Rafael Rivero) Abreu, Drill statt Kreativität, vor allem jedoch die Orchestererziehung als letztlich europäisches, koloniales Projekt, das mit musikalischer Bildung die Armen zu besseren Menschen erziehen wolle und das klassische Symphonieorchester zu einem Modell für eine ideale globale Gesellschaft verkläre.

Allerdings wird Baker seinerseits wegen methodischer Fehler, nicht überprüfbarer Quellen und Voreingenommenheit kritisiert. Die Pianistin Gabriela Montero, die dem System ihren ersten Auftritt sowie der venezolanischen Regierung ein Stipendium verdankt, erhebt den Vorwurf, daß „El Sistema“ zu einem Propaganda-Projekt der Regierung des „Diktators“ Chavez – und es ließe sich aktualisieren: Maduro – verkommen sei. Wie aber sollte ein Projekt nicht mit den Malen der Verhältnisse gebrandmarkt sein, unter denen es verwirklicht wird?

Die Revolución Bolivariana wie der messianische Caudillismus von Chávez lassen sich vielleicht am ehesten als eine Spielart von Neo-Peronismus fassen. Robert Kurz hatte bereits 2006 bemerkt, daß die parastaatlich organisierten Sozialreformen nicht auf eigenständiger gesellschaftlicher Reproduktion beruhen, sondern einzig auf einer undurchsichtigen Subventionierung durch Petro-Dollars. Sie stehen und fallen mit dem Ölpreis, sind also paradoxerweise auf Konjunktur, Bonität und Militärmacht des imperialen Gegners angewiesen. Folglich könnte dem Projekt das Schicksal des Ausverkaufs an den Markt und seine Diktatoren vorgezeichnet sein, „El Sistema“ dort aufschlagen, von wo es aufgebrochen war.

Wird sich das Sozialprojekt „El Sistema“ darin erschöpfen, Kinder und Jugendliche in eben jene Mehrwertmaschine einzuspeisen, die ihre Arbeitskraft gar nicht mehr verwerten kann? Oder stellen die Núcleos bereits zu Strukturen geronnene Momente einer Bewegung diesseits von Konzerten und Konzernen dar, die sich von Venezuela ausgehend seit längeren in Lateinamerika, Indien und den USA und neuerdings in den europäischen Kernländern verbreitet? 

Musik verändert nicht alle Welt, aber zweifellos haben José Antonio Abreu und „El Sistema“ viele Leute in der Welt verändert. Über Deformationen von „El Sistema“ ist zu reden, über ein Scheitern an den Zwängen des warenproduzierenden Systems würde zu reden sein. 

Elisa Erkelenz: Das venezolanische Jugendorchester „El Sistema“ als musikalisches Sozialprojekt. Die Realisierung einer Vision. Grin Verlag, München 2010 (Studienarbeit)

Michael Kaufmann, Stefan Piendl: Das Wunder von Caracas. Irisiana Verlag, München 2011.

Elisabeth Elstner: Die soziale Kraft der Musik. Reise zu den venezolanischen Jugend- und Kinder-Orchestern von Venezuela. 2., überarbeitete Auflage, Epubli, Berlin 2011

Geoffrey Baker: El Sistema. Orchestrating Venezuela‘s Youth. Oxford University Press 2014

The Promise of Music. Eine Dokumentation von Enrique Sánchez Lansch. Deutsche Grammophon 2008 (DVD).

El Sistema. Ein Film von Paul Smaczny & Maria Stodtmeier. EuroARts Music International 2009 (DVD).

Zahlreiche Einspielungen u.a. mit dem Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, dem Venezuelan Brass Ensemble sowie mit verschiedenen Orchestern unter dem Dirigat von Gustavo Dudamel auf CD und DVD.