© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Die Verwundbarkeit Europas
Erkennt die Lage!
Karlheinz Weißmann

Krieg. Plötzlich sprechen alle von Krieg. Zuerst in einem abstrakten Sinn. Dann immer konkreter, nachdem der Islamische Staat sich zu den Attentaten von Paris bekannt hat, Hollande die „Kriegserklärung“ annahm und die Politik über den Bündnisfall spekulierte. Sogar von „Weltkrieg“ ist die Rede, weil der Angreifer offenbar nicht nur das gewonnene Territorium in Syrien und den angrenzenden Gebieten halten, sondern auch den Rest des Planeten unter seine Herrschaft bringen will.

Wie immer man die Erfolgsaussichten dieses Unterfangens einschätzen mag, es gehört zu den unangenehmen Wahrheiten, daß sich das Vorgehen des IS in Europa auf ethnische und religiöse Brückenköpfe stützen kann. Deshalb bleiben die Meinungsführer bei der Feindbestimmung so vage. Sie wissen: Wer den eigentlichen Charakter der Terrorgefahr benennt, muß das Wort „Bürgerkrieg“ in den Mund nehmen.

„Der Bürgerkrieg ist ein Widerspruch in sich selbst.“ Der Satz stammt von Eric Werner, einem lange an der Universität Genf lehrenden katholischen Philosophen. Er findet sich in dessen zuerst 1998 erschienenem Buch „L’Avant-guerre civile“ – „Der Vor-Bürgerkrieg“. Werner meinte damit, daß Bürgerschaft eine politische und soziale Einheit voraussetze. Wenn es innerhalb dieser Einheit zu einem Krieg kommt, ist sie schon nicht mehr vorhanden: der andere ist kein Bürger mehr, sondern Feind.

Die Geschichte lehrt nicht nur, daß Bürgerkriege zu den grausamsten Kämpfen führen, sondern auch, daß sie sehr schwer zu beenden sind. Der moderne Pluralismus bereitet nach Werner den Bürgerkrieg vor. Denn all das, was man jetzt unter die Begriffe „westliche Werte“ und „offene Gesellschaft“ faßt, um die höchsten Güter zu bezeichnen, ist im Grunde nichts anderes als eine Verfallsform des Sozialen: Folge der Auflösung aller Bindungen zwischen den Menschen und der Entstehung immer neuer Fraktionen. Die Gefährdung wandere damit von der Peripherie ins Zentrum, es sind nicht mehr die äußeren Grenzen des Staates, die bedroht werden, sondern die inneren – zwischen ökonomischen, rassischen, kulturellen, religiösen Gruppierungen –, die zu Fronten werden.

Die heute oft diskutierte Vorstellung, die Wanderungsursachen selbst zu bekämpfen, sei illusorisch, es gehe ganz praktisch darum, Europa als einen Raum zu verteidigen, in dem es Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Freizügigkeit und Demokratie geben könne.

Werner hat in den Kontext ausdrücklich die Zuwanderung einbezogen und auf zwei schlichte Wahrheiten hingewiesen: Sogenannte multikulturelle Gesellschaften sind immer vom Zerfall bedroht und leiden unter einer Vielzahl verdeckter und latenter Konflikte, „Integration“ ist nichts anderes als ein Sedativum, mit dem man das Volk in eine Art künstliches Koma versetzt, um die Konfrontation mit der erschreckenden Realität möglichst lange hinauszuzögern.

Werner vertrat mit seiner Analyse zwar eine Minderheitenposition, stand aber keineswegs allein. Die berühmte „Rivers of Blood“-Rede des britischen Konservativen Enoch Powell war nie ganz vergessen, in der schon 1968 der Sorge Ausdruck gegeben wurde, daß wir bald wie „der Römer, …, ‘den Tiber gefärbt von blutigem Schaum’ … sehen“, wenn der Bürgerkrieg zwischen Weißen und Farbigen ausbricht. Und nach dem Kollaps des Kommunismus machte sich überraschend ein Unbehagen in der „feindlosen Demokratie“ (Joachim C. Fest) breit.

1993 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger ein Buch unter dem Titel „Aussichten auf den Bürgerkrieg“, in dem er luzide Einsichten und diffuse Andeutungen zusammenfügte. Bemerkenswert war dabei seine These von der Gefährdung einer weichen, selbstgefälligen Zivilisation, in der sich die Bürgerkriege „molekular“ vorbereiten. Während eine träge, pazifistische Masse nur an Komfort und Ablenkung interessiert ist und nichts von Gefahren hören will, entstehen terroristische Zellen, die systematisch und skrupellos auf den Schlag gegen einen fast wehrlosen Gegner trainiert werden.

Wesentlich konkreter als dieses Szenario war das des Soziologen Horst Afheldt, das fast zeitgleich und ausgerechnet in der liberalen Süddeutschen Zeitung erschien. Afheldt arbeitete am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, das eigentlich auf Friedensforschung spezialisiert war. Um so überraschender war die Drastik, mit der er auf die drohenden Gefahren der Globalisierung hinwies, die den Wanderungsdruck auf Europa immer weiter verstärke. Der Gewinner dieses Prozesses sei, wenigstens mittelfristig, der Besitzende, der Verlierer, in jedem Fall, die Bevölkerungsmehrheit. Der Zuzug von immer mehr fremden Menschen mache deren Eingliederung unmöglich und führe zur Auflösung des politischen Systems: „Die Reaktion der Gesellschaft auf diesen Zerfall der sozialen Ordnung ist vorhersehbar: Rechtsradikalismus, Rassismus, Rufe nach dem Polizeistaat. Bleibt bei zunehmender Kriminalität der Polizeistaat aber aus, tritt Selbstjustiz an seine Stelle, zunächst von einzelnen Betroffenen, schließlich organisiert, als Bürgerwehr. Privatarmeen für die Reichen wie in Amazonasstaaten oder ‘Todesschwadronen’, die nach brasilianischem Vorbild ‘kriminelle’ Straßenkinder töten ...“

Afheldt sah nur die Möglichkeit, einen europäischen „Mauerstaat“ zu errichten, um diese Gefahr zu bannen. Weder dürfe man der weiteren Migration tatenlos zusehen, noch an einem prinzipiellen Asylrecht festhalten. Die Vorstellung, die Wanderungsursachen selbst zu bekämpfen, sei illusorisch, es gehe ganz praktisch darum, Europa als einen Raum zu verteidigen, in dem es Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Freizügigkeit und Demokratie geben könne.

Das Konzept Afheldts ähnelte Ansätzen, die seit Mitte der neunziger Jahre im angelsächsischen Raum diskutiert wurden. So veröffentlichte der amerikanische Publizist Robert Kaplan 1997 einen Essay unter dem Titel „Was Democracy Just a Moment?“ Kaplan vertrat darin die Auffassung, daß die westlichen Demokratien einem Verfallsprozeß ähnlich dem der antiken unterlägen: von der Monarchie über die Demokratie zur Oligarchie, zur Zwangsherrschaft des Militärs oder zur Anarchie.

Ein ganz ähnliches Bild zeichnete auch der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld, der davon ausging, daß an die Stelle des uns bekannten politischen Gesamtsystems ein Nebeneinander von Staaten oder staatsähnlichen Größen treten werde, die in abgestuftem Maß Souveränität besitzen, Gebiete, die wechselnden „Warlords“ unterworfen sind und aterritoriale Machtgebilde, die sich um große Konzerne ebenso wie um religiöse Sondergruppen oder mafiose Organisationen bilden können. Nur ausnahmsweise werde es einer zentralen Autorität möglich sein, das Gewaltmonopol zu verteidigen, und in manchen Regionen der Welt werde das Chaos herrschen, ohne Aussicht auf Abhilfe.

Was man heute in Europa und Nord-amerika als üblichen Standard bürgerlicher Existenz betrachte, dürfte keine Bedeutung mehr haben. Angesichts einer dramatisch gewachsenen Unterschicht und dauernder Bedrohung müßten sich die meisten an den Verlust persönlicher Freiheit gewöhnen und daran, daß sie und ihre Kinder nur als „Vasallen der starken und reichen Gesellschaftsmitglieder“ oder als Schutzbefohlene irgendwelcher Autoritäten überleben könnten.

Noch weiter zugespitzt finden sich derartige Vorstellungen unter den Anhängern der Theorie des „neuen Mittelalters“. Im Juni 2008 veröffentlichte das Strategic Studies Institute, eine dem Pentagon angeschlossene Denkfabrik, ein Dossier mit dem Titel „From the New Middle Ages to a New Dark Age: The Decline of the State and U. S. Strategy“ – „Vom neuen Mittelalter zum neuen dunklen Zeitalter: Der Niedergang des Staates und die US-Strategie“. Der Verfasser Phil Williams vertrat darin die Meinung, daß sich die Vereinigten Staaten auf einen rapiden Verfall von Staatlichkeit einrichten sollten. Aufzuhalten sei der Prozeß nicht mehr, da sich alle Erwartung, es könne gelingen, in jeder Weltgegend stabile politische Ordnungen einzurichten, als irrig erwiesen hätte.

In Zukunft werde man es mit allen möglichen Akteuren zu tun bekommen, vor allem solchen mit halb- oder parastaatlichem Charakter. Dazu gehörten neben mehr oder weniger souveränen Stammesgebieten auch Territorien, die von religiösen Fundamentalisten oder Söldnerführern oder Verbrecherkartellen kontrolliert würden, weiter solche, die Großkonzerne beanspruchten, etwa um Ressourcen zu schützen, und die sie mit Hilfe eigener oder gemieteter Sicherheitsfirmen gegen Zugriffe von außen verteidigten. Außerdem werde es ganze Bereiche geben, die umkämpft blieben und andere, an denen niemand Interesse habe und die man sich selbst überlasse. „Failed states“ bildeten in Zukunft nicht mehr die Ausnahme, sondern den Regelfall, und die Entwicklung in diese Richtung dürfte nicht nur fortschreiten, sie werde sich weiter beschleunigen.

Alle Utopien von Weltfrieden und Menschheitsverbrüderung und Bereicherung durch Vielfalt enthalten trotz der sanften Sprache, in der sie uns angedient werden, eine tödliche Gefahr. Denn sie machen blind für die Gesetze des Politischen.

Als Hauptursache dafür betrachtete Williams die Internationalisierung von Terrorismus, Fundamentalismus und Kriminalität, die modernen Möglichkeiten, Daten, Waren und Menschen über „poröse Grenzen“ hinweg zu transportieren und die Kontrollmöglichkeiten des Staates zu untergraben. Die destruktive Wirkung dieser Tendenzen sei zu lange unterschätzt worden, was nun eine Situation heraufbeschwöre, in der nicht mehr daran gedacht werden könne, zum Status quo ante zurückzukehren. Den USA bleibe nur, sich in eine Art freiwillige Quarantäne zurückzuziehen oder ihre Interventionsstrategie anzupassen, um das Chaos zwar nicht zu überwinden, aber zu „managen“.

Europa spielt für Williams Entwurf so wenig eine Rolle wie für das sehr ähnliche Denkmodell seines britischen Kollegen John Rapley, der schon vor zehn Jahren meinte, daß auf dem alten Kontinent „der Zusammenprall der Religionen und Kulturen angeheizt wird von der Fortsetzung demographischer Trends und dem Fehlschlag der Integrationspolitik. In der Rückschau werden die Bombenanschläge von Madrid und London genauso wie die Aufstände in Paris 2005 als die ersten Salven in einem niederschwelligen Bürgerkrieg betrachtet werden, der Europa in den kommenden Jahrzehnten zusammenbrechen läßt.“

Daß Prognosen wie diese in Deutschland regelmäßig als unbegründet, als Scharfmacherei oder als Vorlauf einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gelten, hat mit einem gefährlichen Defekt des politischen Denkens zu tun: einer Neigung, das Wesen des Politischen zu verkennen, und das heißt zu übersehen, daß alle Utopien von Weltfrieden und Menschheitsverbrüderung und Bereicherung durch Vielfalt trotz der sanften Sprache, in der sie uns angedient werden, eine tödliche Gefahr enthalten. Denn sie machen blind für jene Gesetze, die seit je die Politik bestimmen, und die rechnen mit konkreten Ordnungen, die in Form gebracht und gehalten werden müssen, mit Antagonismen und Koalitionen, mit der Notwendigkeit, Interessenlagen zu erkennen, und vor allem mit der Notwendigkeit, sich der Feinde zu erwehren, wo immer sie sich zeigen.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den 200. Jahrestag der Niederlage Napoleons bei Belle-Alliance („Das letzte Karree“, JF 25/15).

Foto: Schreckliche Vorläufer – auf den Gleisen am Bahnhof El Pozo liegt eine Blume zum Gedenken an die islamistischen Zuganschläge vom 11. März 2004 in Madrid, bei denen 191 Menschen starben: „In der Rückschau werden die Bombenanschläge von Madrid und London genauso wie die Aufstände in Paris 2005 als die ersten Salven in einem niederschwelligen Bürgerkrieg betrachtet werden, der Europa in den kommenden Jahrzehnten zusammenbrechen läßt.“