© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Vegetarismus hilft auch nicht
Fleischverzehr und Dickdarmkrebs: Differenzierte Antworten der Ernährungsforschung zur WHO-Warnung
Christoph Keller

Ende Oktober meldete die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC), eine Behörde der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der regelmäßige Konsum von „rotem Fleisch“ und Fleischwaren erhöhe markant das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken. Schon seit längerer Zeit ohne deftigen „Lebensmittelskandal“, griffen die bundesdeutschen Medien die IARC-Warnung gern auf, um endlich einmal fernab der Asylkrise Alarmstimmung zu verbreiten.

Den nicht nur von Herstellern Schwarzwälder Schinken befürchteten Absatzeinbruch an der Fleisch- und Wursttheke sowie eine explodierende Nachfrage bei „weißem Fleisch“, Geflügel und Fisch, hat die Presseberichterstattung jedoch bisher nicht ausgelöst. Nicht zuletzt deshalb, weil spätestens der jeweils zweite Zeitungsartikel das wissenschaftlich Kleingedruckte zur Beruhigung der Gemüter nachlieferte. 

80 Gramm pro Tag sind gänzlich unbedenklich

Demnach bestätigte und bekräftigte die IARC lediglich die in der Ernährungsforschung seit 20 Jahren unstrittige Erkenntnis, daß rotes Fleisch, das Muskelfleisch aller vom Menschen verzehrten Säugetiere, Rind, Schwein, Lamm, Kalb, und auch Pferd und Ziege, generell als krebserregend gelten muß. Ebenso unter Experten altbekannt sind die relativierenden Resultate aus der Metastudie der WHO-Behörde, der zufolge das Krebsrisiko von der konsumierten Fleischmenge abhänge und daß Männer, die im Wochendurchschnitt doppelt soviel Fleisch essen wie Frauen, gefährdeter seien als das schöne Geschlecht.

Acht Wochen vor der sensationell aufgemachten IARC-Studie war in der Bonner Zeitschrift Ernährung im Fokus (Heft 9-10/15) ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand in Sachen „Fleischverzehr und Dickdarmkrebs“ erschienen. Er stammt von Maike Wolters (Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie, Bremen) und den beiden Hannoveraner Ernährungswissenschaftlern Andreas Hahn und Alexander Ströhle. Die Schwelle zur öffentlichen Wahrnehmung jenseits des Kreises der Fachkollegen konnte der die IARC-Studie vorwegnehmende Aufsatz schon deshalb nicht überschreiten, weil er sich nicht auf wenige gesicherte Wahrheiten reduzieren läßt.

Wolters, Hahn und Ströhle betonen statt dessen die Uneinheitlichkeit der Forschungslage. Als gesichert könne nur gelten, was auch die IARC exponiert: die Relation zwischen Menge – unbedenklich scheinen 80 Gramm, sechs dünne Scheiben Mettwurst, pro Tag – und Krebsrisiko sowie die Abhängigkeit der kanzerogenen Wirkung vom Geschlecht. Überdies ist der Effekt mit einem Risikoanstieg von 16 bis 39 Prozent bei Fleischwaren wie Wiener Würstchen sogar deutlicher ausgeprägt als beim „roten“ Fleisch (10 bis 28 Prozent).

Die Autoren antizipieren zudem eine Kritik, mit der der Medizin-Nobelpreisträger Harald zur Hausen auf die Metastudie der IARC reagiert hat: Sie lasse unerwähnt, daß es Länder mit hohem Fleischkonsum gebe, in denen die Dickdarm-Krebsraten auffällig niedrig sind. Also müsse weiter zwischen rotem Fleisch differenziert werden, um festzustellen, welche Sorten das Risiko erhöhen.

Rindfleisch steht in zur Hausens Liste der Verdächtigen ganz oben. Für das Forschertrio Wolters, Hahn und Ströhle wäre damit aber nur ein Ansatz zur weiteren Komplexitätssteigerung gemacht. Denn zuwenig habe man sich über „Störgrößen“ in Kombination mit Fleischkonsum orientiert. Ein hoher Verzehr von rotem Fleisch und Fleischwaren, über 600 Gramm wöchentlich, zeuge insgesamt von einem ungesunden Lebensstil. Daher nähmen Fleischliebhaber gewöhnlich weniger Gemüse, Obst, Nüsse und Vollkornprodukte zu sich, tränken häufiger Alkohol und griffen zur Zigarette.

Frage nach der Plausibilität der krebserregenden Wirkung

Dieses Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren, darüber hinaus möglicherweise der Stoffwechseltyp des Konsumenten, seine individuelle Biochemie und die Zusammensetzung seiner Darmflora, mache es besonders schwierig, den tatsächlichen gesundheitlichen Effekt von Fleisch zu ermitteln und von etwaigen Störgrößen wie geringem Ballaststoffkonsum zu trennen. So hätten angelsächsische Studien 2004 eine Vielzahl solcher Störgrößen statistisch eliminiert und danach festgestellt, daß es bei den Probanden entgegen dem ersten Anschein keine signifikant positive Assoziation zwischen dem Konsum von rotem Fleisch und dem Dickdarmkrebsrisiko gab.

Eher unübersichtlich und widersprüchlich präsentieren sich auch die Hypothesen zur Erklärung der „biologischen Plausibilität“ der krebserregenden Wirkung von Fleisch. Eine allgemein akzeptierte Erklärung gebe es derzeit nicht. Am meisten überzeuge das „Häm-Modell“. Demnach trage Häm-Eisen zur verstärkten endogenen Bildung von N-Nitrosoverbindungen (NCO) bei, die im Darm aus Nitrit und Abbaubauprodukten des bakteriellen Aminosäurestoffwechsels entstehen. Immerhin stützen diese Hypothese mittlerweile prospektive Kohortenstudien mit über einer halben Million Teilnehmern. Unter den Probanden mit hoher Häm-Aufnahme ergab sich dabei ein um 14 bis 18 Prozent gesteigertes Risiko, an Dickdarmkrebs zu erkranken.

Man müsse jedoch nicht zum Vegetarismus konvertieren, um jede Gefahr zu umgehen. Denn leider hätten Untersuchungen an Vegetariern schon 1999 nachgewiesen, daß deren Ernährungsweise sie nicht vor Darmtumoren schützte.

Zur Krebsprävention genüge es also nach derzeitigem Wissensstand, den wöchentlichen Fleischverzehr auf unter 600 Gramm streng zu begrenzen sowie Fleisch durch Fisch, Geflügel und Hülsenfrüchte zu ersetzen.

Nach der Prognose des Leipziger Zukunftsforschers Sven Gabor Janszky dürfte die gegenwärtig noch mit Leidenschaft erörterte „Fleisch-Frage“ in zehn Jahren ziemlich bedeutungslos geworden sein (Die Ernährung/Nutrition, 3-4/15): weil dann teures „rotes Fleisch“ voraussichtlich nur für die vier bis 20 Prozent Biokonsumenten erschwinglich sein dürfte. Die Masse der Bevölkerung in Europa müsse genauso wie die expandierenden Mittelschichten in Afrika und Asien mit Steaks aus dem 3D-Drucker vorliebnehmen. Denn da ohne eine weitere Beschleunigung des Klimawandels die natürliche Fleischproduktion nicht mehr zu steigern sei, müßten bald tierische Gewebezellen geklont und durch einen Bioprinter ausgedruckt werden; ein Gewebeklonen, das heute noch sehr teuer sei, aber in naher Zukunft erheblich billiger sein dürfte. Ob beim „gedruckten Steak“ nicht wieder Krebsgefahren lauern, vermag Janszky indessen nicht vorherzusagen.


 Zeitschrift „Ernährung im Fokus“: www.aid.de/

 Zeitschrift „Die Ernährung“: www.ernaehrung-nutrition.at