© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

„Deutschland bringt die EU in Gefahr“
Landesweit bekannt wurde Anthony Glees als er auf dem Höhepunkt der „Willkommenskultur“ die Bundesrepublik öffentlich als „Hippie-Staat“ kritisierte. Nun erklärt der britische Politikwissenschaftler, was er damit eigentlich gemeint hat
Moritz Schwarz

Herr Professor Glees, Sie haben Deutschland einen „Hippie-Staat“ genannt. Warum?

Glees: Nach 1945 war die deutsche Politik stabil, vernünftig und berechenbar, was wir Briten wirklich sehr zu schätzen wußten. Denken Sie etwa an den jüngst verstorbenen Helmut Schmidt, der geradezu der Inbegriff dieses Politikstils war. Frau Merkel dagegen hat durch ihre Entscheidung, im Alleingang die Grenzen zu öffnen, mit dieser bewährten deutschen Tradition der Politik des kühlen Kopfes gebrochen. Dabei haben gerade die Deutschen in Europa stets darauf gepocht, daß jeder sich an die Regeln hält. Auf einmal aber brechen sie diese selbst und treffen eine einsame Entscheidung, geleitet von Gefühlen statt – verzeihen Sie, wenn ich das so sage – vom Gehirn. Das habe ich gemeint, als ich die Formulierung „Hippie-Staat“ gewählt habe. 

Tatsächlich wünschen sich viele Deutsche „Politiker mit Herz“, statt kalte Rationalisten der Macht – was unterschwellig auch als Bruch mit Traditionen etwa aus der Zeit des Dritten Reiches empfunden wird.

Glees: Oh, da liegen sie aber völlig falsch! Gerade der Nationalsozialismus pflegte den Politikstil der Emotionalität, appellierte an das Gefühl und versuchte, Zustimmung über Stimmungen zu erzeugen. Die kühle Rationalität der Macht – in dem Sinne, jenseits aufgeputschter Emotionalität das Abgewogene, Vernünftige und Regelgerechte zu tun –, das war der „neue“ Politikstil nach 1945. Damit hat das Nachkriegsdeutschland seine zunächst noch mißtrauischen Nachbarn beeindruckt und davon überzeugt, daß die deutsche Politik mit dem Nationalsozialismus gebrochen hatte und zur Berechenbarkeit zurückgekehrt war.

Also sind jene mit Vorliebe für eine Politik des „warmen Herzens“ näher am Politikstil des Dritten Reichs, als sie glauben?

Glees: Genau das. Allerdings möchte ich nicht so verstanden werden, Frau Merkel sei Nationalsozialistin, das wäre verleumderischer Unsinn gröbster Art. Selbst jemand wie Willy Brandt, den ich ein paarmal persönlich getroffen habe und der wie kein zweiter im Nachkriegsdeutschland wieder politische Gefühle zu mobilisieren vermochte, war in seiner praktischen Politik sachlich und abgewogen. Bei Frau Merkel dagegen – denken Sie schon an ihre Entscheidung zum Atomausstieg – kann ich dieses Format nicht erkennen. Verstehen Sie mich aber nicht falsch, ich plädiere nicht für Herzlosigkeit, und ich bin auch kein Fremdenfeind. Ich befürworte, daß echte Flüchtlinge und auch wirtschaftliche Einwanderer in Europa Platz finden. Meine Eltern sind selbst Auswanderer, die von Deutschland nach Großbritannien emigrierten. Aber das muß Regeln folgen. Denn Regeln und Gesetze sind die Essenz der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Legitimation von Politik. Daß das von Frau Merkel und vielen Deutschen, die sie für ihre Entscheidung gefeiert haben, nicht begriffen wird, verunsichert viele Briten und weckt Befürchtungen, daß die Deutschen nicht mehr der Vernunft folgen.  

Wie erklären Sie sich die Abkehr der Kanzlerin von dieser Tradition?

Glees: Ich vermute, daß ihr zum einen das Schicksal so vieler Deutscher im 20. Jahrhundert vor Augen steht, die selbst Flüchtlinge waren. Dabei hat sie allerdings nicht bedacht, daß es sich dabei um Deutsche handelte, die aus dem Osten ihres Landes in den Westen ihres Landes flohen. Das ist etwas völlig anderes, als wenn Menschen aus einer ganz anderen Kultur ins Land kommen. Obwohl also die Probleme im ersten Moment gleich aussehen mögen, sind sie es doch nicht. Und so kann man sich nicht auf die gelungene Integration deutscher Flüchtlinge berufen und glauben, man könne dies nun einfach wiederholen.

Zum anderen?

Glees: Einige, die Frau Merkel nun unterstützen, sind erfüllt vom Geist der Achtundsechziger. Wir sollten nicht davon ausgehen, daß diese Mentalität – die Mißachtung gegenüber Gesetzen und Regeln, hysterische Protesthaltung, und sogar Anti-Amerikanismus – einfach verschwunden ist. Der ehemals radikale Studentenführer Gerhard Schröder wurde Bundeskanzler – war er nicht irgendwo auch ein Produkt von 1968? Ob die Aufhebung der Schengen/Dublin-Regeln oder der Bruch der Emissionsregularien durch deutsche Autobauer, der Schaden für den Ruf Deutschlands ist enorm. Einmal habe ich Frau Merkel übrigens persönlich getroffen und nutzte die Gelegenheit, sie zu fragen: „Frau Kanzlerin, sind Sie eine Margaret Thatcher?“ Sie antwortete, nein, denn sie habe nichts gegen ein wiedervereinigtes Deutschland. Das war eine gewitzte Antwort, aber natürlich nicht das, was ich wissen wollte. Warum erzähle ich das? Ich glaube, es könnte Deutschlands Problem sein, daß es nie eine Margaret Thatcher hatte. Denn was Frau Thatcher bewirkt hat, ist, Großbritanniens bürgerliche Mitte wieder definiert zu haben, so daß die radikalen Ränder wieder als radikale Ränder erkennbar waren und die Mitte nicht abdriftete. In Deutschland dagegen hat die Einstellung des Hippies die deutsche Vernunft und Regeltreue abgelöst und die Mitte verschoben.

Was meinen Sie mit „Einstellung des Hippies“?

Glees: Der Hippie verachtet Regeln. Er arbeitet oder folgt der Ordnung nur, wenn er Lust dazu hat. Das klingt im ersten Moment angenehm, aber so verkommen die Verhältnisse, und es ist auch eine recht unerwachsene Einstellung.

Also meinten Sie mit „Hippie-Staat“ keineswegs nur die deutsche Politik, sondern die deutsche Gesellschaft insgesamt?

Glees: Ja, wobei man sagen muß: Ist es für Bürger in Ordnung, Flüchtlinge mit Jubel und Teddybären willkommen zu heißen? Nun, wenn dies ihr Wunsch ist, natürlich. Aber ist ein entsprechendes Verhalten auch für die Politik angemessen? Nein, sicher nicht. Es ist völlig in Ordnung, wenn der einzelne sich emotional verhält, aber nicht, wenn der Regierungschef von Emotionen, Bauchgefühl oder Instinkt beherrscht wird. Ein Regierungschef hat die Pflicht, eine verantwortungsbewußte Politik zu betreiben und die öffentliche Sicherheit zu garantieren – Sicherheit ist eine der wenigen Kernpflichten einer Regierung. Frau Merkels Einwandererpolitik, die Hunderttausenden den Zutritt zum Land gewährt, ohne zu wissen, wer oder was diese sind, ignoriert die Tatsasche, daß auch wenn einige von ihnen tatsächlich Asylberechtigte aus Syrien sein mögen, viele einfach Wirtschaftseinwanderer und einige sogar möglicherweise islamistische Terroristen sind, die diesen Weg wählen, um nach Europa einzudringen. Außerdem: Natürlich ist es naheliegend, daß ein emotionales Verhalten eines Teils der Bürgerschaft ein ebenso emotionales – aber gegenteilig ausgerichtetes – emotionales Verhalten beim anderen Teil der Bürgerschaft hervorruft. Denn natürlich erzeugt der unreflektierte Jubel über Zuwanderung der einen bei den anderen Befürchtungen. Schließlich sehen diese ja, daß da Millionen Menschen in ihr  Land strömen. Und wenn ein Teil der Gesellschaft sowie sogar die Politik rein emotional und ohne vernünftige Erwägung darauf reagieren, dann kann das zu Recht irritieren. Vor allem da dieser Zuzug die Gesellschaft Ihres Landes in fundamentaler Weise verändern wird! 

In Deutschland würde man Ihnen nun Angst vor dem Fremden vorwerfen.

Glees: Was völlig unsinnig ist, da ich nicht aus der Position eines Vorbehaltes gegenüber Fremden argumentiere, sondern aus der Position der vernünftigen Erwägung heraus, die die sozialen, religiösen und sicherheitstechnischen Implikationen bedenkt. Und wenn Frau Merkel nun sagt, man werde „keine Intoleranz tolerieren“, so ist dies an sich eine intolerante Äußerung, da sie damit die Ausgrenzung der Emotionen eines Teils ihrer Bürgerschaft betreibt. Da sehen Sie, wie rasch Politik in Probleme gerät, wenn sie sich auf Emotionen einläßt. 

Sie haben Frau Merkels Entscheidung zudem „undemokratisch“ genannt. Warum?

Glees: Weil ihre Grenzöffnung nicht nur sie und ihr Land, sondern alle 28 EU-Staaten betrifft. Denn die Einwanderer, die Deutschland massenhaft aufnimmt, werden sich nach einiger Zeit frei in der EU bewegen dürfen. Das heißt also, Frau Merkel hat auch für Großbritannien – und somit auch für mich – eine Entscheidung getroffen. Doch weder ich noch ein anderer Brite und auch kein Bürger aus einem der anderen EU-Staaten haben Frau Merkel dazu ermächtigt. Daher nenne ich ihr Verhalten äußerst undemokratisch. Denn Demokratie ist per Definition eine Ordnung, deren Zusammenhalt auf der Gültigkeit gemeinsamer Regeln und Gesetze beruht. Wer diese Gemeinsamkeit über den Haufen wirft, wirft die Demokratie über den Haufen, weil er ihren Wesenskern verwirft. Die EU ist ein Verbund, der tatsächlich auf Basis gemeinsamer Regeln funktioniert. Das ist eine enorme historische Errungenschaft, die Frau Merkels Verhalten nun in Gefahr bringt.

Inwiefern?

Glees: Wenn die Regeln, auf denen die Europäische Union ruht, nicht mehr gelten, dann droht die ganze Union auseinanderzufliegen. Und obendrein liefert Kanzlerin Merkel mit ihrem Verhalten all jenen eine Bestätigung, die seit jeher Vorbehalte gegenüber der EU haben. Denn damit verwandelt Frau Merkel die EU genau in das, was die EU stets nicht sein beziehungsweise ja sogar gerade verhindern sollte, nämlich daß Deutschland Europa dominiert. Diesen Verdacht auszuräumen, waren Briten wie ich, die immer für die EU eingetreten sind, stets sehr bemüht. Immer wieder mußten wir dem Verdacht begegnen, die EU sei im Grunde nichts anderes als ein perfider Plan der Deutschen, doch noch das zu erreichen, was ihnen in zwei Weltkriegen nicht gelungen sei. Natürlich ist das Unsinn, aber durch Frau Merkels Verhalten erhält es ungewollte Plausibilität und macht viel von dem Vertrauen zunichte, das ich und andere mühsam in Großbritannien zugunsten Deutschlands aufzubauen bemüht sind.

Vermutlich hat Merkel bei ihrer Entscheidung über all dies gar nicht nachgedacht.

Glees: Das vermute ich auch – eben weil sie von ihren Emotionen geleitet war. Aber das macht es nur wenig besser. Denn das ist die Arroganz der Macht, sich keine Gedanken über andere zu machen, die auch noch da sind. 

Kaum ein deutscher Politiker dürfte dies erwogen haben.

Glees: Um so schlimmer. Deutschland bildet sich ein, es wisse, was richtig ist. Und wer da nicht mitmarschiert, gilt als schlechter Europäer. Pardon, aber so etwas ist unerträglich. So eine Haltung ist nicht die Entsprechung der europäischen Idee, da irren sich die Deutschen, vielmehr ist es ihre Verneinung! Viel von dem, was David Cameron über Europa sagt, stimmt mit dem überein, was viele Menschen in Deutschland und ganz Europa sagen. Es ist nicht anti-europäisch, wenn man sich die EU anders wünscht, als Deutschland sie haben möchte oder in Zweifel zieht, daß Deutschland und Frankreich das stets besser wissen. 

Sie haben auch gesagt, man möge „über die ungarische Regierung denken, was man will“, aber sie habe sich – anders als Deutschland – „an die Regeln gehalten“.

Glees: So ist es, Ungarn hat versucht, die gesetzten europäischen Normen in bezug auf Schengen und Dublin aufrechtzuerhalten – und Deutschland ist ihm dabei in den Rücken gefallen.   

Dann wäre Viktor Orbán nicht der Anti-Europäer, als der er gerne gesehen wird?

Glees: Es verhält sich in der Tat differenzierter. Natürlich wissen wir, daß es einige sehr unerfreuliche Entwicklungen in der ungarischen Politik gibt und daß in dem Land eine starke rechtsextreme Strömung existiert. Um so wichtiger ist es, daß Deutschland durch sein Verhalten nicht auch noch Öl ins Feuer gießt und diesen Kräften Argumente liefert.

Allerdings mußte Deutschland die Regeln brechen, weil die Humanität es erfordert hat, so die Haltung der Koalition in Berlin.

Glees: Da würde ich die deutsche Regierung doch mal gerne fragen, was sie denn für die Ursache des Flüchtlingsproblems hält? Zweifellos ist es die sich seit langem verschärfende Lage in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen. Wenn sich Deutschland so sehr der Humanität verpflichtet fühlt, warum hat es sich dann nicht viel stärker daran beteiligt, dem entgegenzuwirken? Berlin war anders als London oder Paris nicht bereit, im Irak, Syrien oder Nordafrika Verantwortung zu übernehmen, damit die Menschen nicht erst fliehen müssen. Dabei führt die Kombination, dort nicht einzugreifen, hier aber Menschen anzulocken, nur dazu, daß der Zustrom nie enden wird.

Der Journalist Hugo Müller-Vogg berichtet, Frau Merkel habe in einer Fraktionssitzung geäußert: „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin. Nun sind sie halt da.“

Glees: Wenn das stimmt, kann ich nur sagen, das sind die Worte eines Politikers, der abgelöst gehört. Denn wenn er keine Verantwortung mehr für das Gemeinwesen empfindet, das ihm anvertraut ist, dann hat er in seinem Amt nichts mehr zu suchen. 






Prof. Dr. Anthony Glees, ist Direktor des renommierten „Centre for Security and Intelligence Studies“ an der Privatuniversität von Buckingham. Der Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung ist Autor etlicher Bücher und tritt regelmäßig in britischen und internationalen Medien wie BBC, Sky TV, CNN oder Al-Jazeera auf, und er publiziert unter anderem in der Sunday Times, dem Daily Telegraph, der Daily Mail, dem Guardian oder dem Wall Street Journal. Der Sohn deutschstämmiger Eltern wurde 1948 in Großbritannien geboren. 

Foto: Demonstranten in Berlin: „Auf einmal brechen die Deutschen die europäischen Regeln und treffen eine einsame Entscheidung, geleitet von Gefühlen statt – verzeihen Sie – vom Gehirn“

 

 

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