Mächtig Lärm gemacht in den Medien wird zur Zeit für „die Verteidigung unserer Werte“. Angesichts der neuen islamischen Terrorwelle, so hört und liest man tagtäglich, gelte es, sich zu „unseren Werten“ zu bekennen und sie den Einwandererströmen zu erklären. Wobei interessanterweise in der US-Presse überwiegend von den „alten, traditionellen Werten“ („the old values“) die Rede ist, während es hierzulande einzig und allein um die „unseren“ geht. Das „unser“, bezogen auf die unmittelbare Gegenwart, ist der höchste Wert, darüber geht nichts.
Immerhin, Gustav Seibt von der Süddeutschen Zeitung ist das aufgefallen, und er wundert sich sehr darüber. Die „Aufklärung“, einer unserer – wie überall versichert – höchsten Werte, sei doch, so schreibt er, gar kein „Wert“, sondern „ein Prinzip (Gebrauch des eigenen Verstandes, öffentlicher Vernunftgebrauch, Anzweifeln von Autoritäten), im Zweifelsfall eines, mit dem man auch ‘Werte’ überprüft. Dann aber müßte man sagen: Einer der Werte, für die wir kämpfen, ist auch der Werterelativismus, also (…) die Erlaubnis, sein eigenes Leben jeweils eigenen Werten zu unterwerfen.“
In der Tat, „Wert“ ist vom ursprünglichen Wortsinn her keine erkenntnistheoretische oder gar moralische Kategorie, sondern eine ökonomische. Er stellt auf Marktgeschehen und Tauschhandel ab, aber so, wie er bei uns heute gebraucht wird, suggeriert er, daß existenzhaltige, moralische Grundsätze gegen irgend etwas anderes eingetauscht beziehungsweise mit Geld aufgewogen und gemessen werden könnten. Das ganze aktuelle Wertegeschrei dreht sich ausschließlich um die – wirkliche oder angebliche – Nützlichkeit der „Werte“ oder, genauer: ob wir es uns mit ihrer Hilfe möglichst gemütlich machen können.
An der medialen Aufmachung gemessen, geht es angeblich um allerhöchste Erkenntnis- und Moralgrundsätze, um erhabenste Transzendentalitäten, doch wenn man sich genauer auf die Teste einläßt, sieht man: Die „Werte“, behaupten die einen, seien eine Art soziales Schmieröl, nützten letztlich jedem einzelnen, während andere sagen: „Was brauchen wir Werte? Wir haben doch ohnehin schon zuviel Gesetz und Polizei. Soll also jeder sehen, wie er zu seinem Spaß kommt. Hauptsache, das Ganze funktioniert reibungslos im gewohnten Feierabendtrott und ohne allzuviel Sicherheitsaufwand.“
Die Pariser Anschläge erweisen sich in gespenstischer Weise geradezu als hier fällige Probe aufs Exempel. Die Terroristen zielten nicht auf Regierungsbezirke, nicht auf Universitäten und auch nicht aufs klassische Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés, sondern im Visier lag ein populäres, geistig harmloses Vergnügungsviertel mit gemütlichen Kneipen, optimalem Alkoholkonsum, interessanten jüdischen Kleiderläden, Musikhallen für Popmusik, Fußball – also genau einer der Hauptpunkte jenes „Werterelativismus“, den Gustav Seibt als heimliches Sehnsuchtsziel der „Wertediskussion“ kenntlich gemacht hat.
Pankraz glaubt nicht, daß die Auswahl dieses Pariser Viertels als Ziel der Anschläge zufällig war, lediglich taktischen Erwägungen entsprang. Mit Sicherheit stand dahinter eine wohlüberlegte Strategie. Getroffen werden sollte ausdrücklich der westliche Hedonismus, welcher, wie soeben Mathieu Slama in der Huffington Post voller Sarkasmus schrieb, den dschihadistischen Mordbuben die „geistige Rechtfertigung“ ihres Tuns liefert: „So mag es ein postumer Trost für die Biertrinker vom Marais sein zu erfahren, daß sie nicht aus Zufall, sondern als Blutzeugen des allgemeinen Werteverfalls in Frankreich zu Tode kamen.“
Von Trost, für wen auch immer, kann selbstverständlich nicht im entferntesten die Rede sein, allenfalls davon, daß die Pariser Massenmorde und die Reaktionen darauf uns ein für allemal klarmachen könnten, daß das Gerede von „unseren Werten“ nach jeder Richtung hin falsch ist und zu bösen Häusern führt. Eine gute Gesellschaft besteht nicht nur aus funktionierender Ökonomie und feierabendlicher Gemütlichkeit, sondern – sogar in erster Linie – aus praktizierter Tugendhaftigkeit.
Statt von „unseren Werten“ sollte man lieber von „old values“, alten Tugenden, sprechen, die jedermann zu praktizieren sich Mühe geben sollte. Die alten, aus tiefster Menschenerfahrung heraus formulierten Tugenden sind wohl das kostbarste Gut speziell der europäischen Geistesgeschichte, als da sind Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, dazu die religiösen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. Immer wieder wurde in der großen Weltliteratur der Kampf dieser Tugenden gegen das Böse dargestellt und eingefordert; daran also gilt es sich zu orientieren.
Tugenden sind keine Gesetze, das heißt, man wird nicht gezwungen, sich ihnen zu unterstellen, sie sind das Element der Freiheit im ethisch-moralischen Netzwerk. Indes, gerade deshalb sind sie für eine gute Gesellschaft so notwendig. Sie haben, auf den ersten Blick, keinen praktischen Nutzen, führen den bewußt Tugendhaften manchmal sogar in größte existentielle Nöte. Es geht bei ihnen nicht vorrangig um das „Glück“, sondern um die Gewißheit, daß man Gottes Gebot und der Gerechtigkeit die Ehre erweist, statt ewig danach zu fragen: „Was bringt mir das?“
Der Islam kennt dieses Gebot der inneren Freiheit nicht, für ihn gibt es nur den blinden metaphysischen Gehorsam, und deshalb werden in seinem Namen dauernd Mord und Folter ausgebrütet. Natürlich darf man sich das nicht gefallen lassen, muß hart zurückschlagen. Es genügt nie und nimmer, sich vor eine Kamera zu stellen und im Namen „unserer Werte“ dagegen zu protestieren. So etwas ist nicht nur im genauen ökonomischen Sinne wertlos, ja wertvernichtend, es ist lächerlich und kontraproduktiv, zudem gegen jede Tugend.
Bloßes Reden ist ohnehin vergeblich. Wie sagte schon Konfuzius zu seinen Chinesen? „Schöne Rede schmückt nur das Zimmer, Tugend schmückt den Leib.“ An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.