© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Zu den typischen Reaktionen auf die Anschläge in Paris gehören die, die Geschlossenheit fordern, Abkehr von alten Illusionen, Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten, Verteidigung „der Freiheit“, der „westlichen Werte“ oder „unserer Lebensweise“. Dahinter steht auch das Unbehagen angesichts der Kompaktheit des Gegners und dessen Todesbereitschaft. Aber es bleibt eine Tatsache, daß entwickelte und mithin differenzierte Gesellschaften solche Eigenschaften nicht haben können. Sie brauchen allerdings Reserven, die es ihnen erlauben, sich im Ernstfall in das Gegenteil dessen zu verwandeln, was sie im Normalfall sind.

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Was für eine Erleichterung, als sich herausstellte, daß das „Von den Toten soll man nur gut reden“ seinen Ursprung in der Furcht vor dem gerade Verstorbenen hatte, der noch umgehen und den Lebenden schaden konnte.

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Es gibt bis jetzt keine überzeugende Typologie der islamischen Terroristen. Sie nur als pathologische Fälle oder als Opfer der Verhältnisse zu betrachten, genügt aber nicht. Vielleicht lohnt ein Rückgriff auf Eric Hoffer und dessen Analyse des true believer – zu deutsch: des „Fanatikers“. Alle Fanatiker, so Hoffers These, eint, „daß sie ihrer Gegenwart völlig respektlos gegenüberstehen“. Für diese radikale Entfremdung gebe es verschiedene Ursachen und dementsprechend auch verschiedene Prägungen des Fanatikers: neben dem Armen und dem Unangepaßten den übermäßig Selbstsüchtigen, den grundlos Ehrgeizigen, den Gelangweilten und den Sünder, der bereut und sich durch die aufs Äußerste gehende Tat reinigen will.

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Wer den Abstand zwischen dem heutigen Umgang mit den Toten und dem der Vergangenheit erfassen will, sollte sich vor Augen halten, daß noch im tristen Schwarz der Trauernden und dem prächtigen Aufputz der Leiche etwas vom Leitmotiv der „verkehrten Welt“ erhalten war, das religionsgeschichtlich große Wirkung hatte: Wer seine Kleider zerriß und sein Haupt mit Asche bestreute, war „wie tot“, während der in sein bestes Gewand gekleidete, geschmückte und geschminkte Verstorbene, den man sogar durch die Straßen führte, „wie lebendig“ war; auch die Neigung, die Totenhäuser aufwendiger zu gestalten als die der Lebenden gehört in diesen Zusammenhang.

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Bildungsbericht in loser Folge LXXXI: Hans-Peter Klein, einer der wenigen Pädagogen, die sich dem fatalen Konsens ihrer Zunft entziehen, hat unlängst auf den Skandal der „Präsentationsprüfung“ hingewiesen. Hamburg hat sie schon verpflichtend für das vierte Abiturfach eingeführt, in Hessen kann sie zusätzlich gewählt werden. Das Schöne an der Präsentationsprüfung ist, daß es keine inhaltliche Wertung gibt, die Show bestimmt die Zensur. Das erklärt auch ihre Beliebtheit in bezug auf die Mathematik, die dann selbst notorisch schwache Prüflinge mit einem „Gut“ oder wenigstens „Befriedigend“ bewältigen, obwohl sie von der Sache keine Ahnung haben.

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Die Basken hatten den schönen Brauch, daß sie auf ihren Höfen zuerst den Bienen Mitteilung vom Tod eines Familienmitgliedes machten. Die Bienen trugen die Nachricht dann in alle Welt.

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„Terror macht die Menschen unbeweglich, als stünden sie und ihre spontanen Bewegungen nur den Prozessen von Natur oder Geschichte im Wege, denen die Bahn freigemacht werden soll. Terror scheidet die Individuen aus um der Gattung willen, opfert Menschen um der Menschen willen, und zwar nicht nur jene, die schließlich wirklich seine Opfer werden, sondern grundsätzlich alle, insofern der Geschichts- oder Naturprozeß von dem neuen Beginnen und dem individuellen Ende, welches das Leben jedes Menschen ist, nur gehindert werden kann.“ (Hannah Arendt)

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Es gibt etwas wie die selbstverständliche Neigung des Konservativen zur Physiognomik. Daher auch die Sympathie für Leute wie Helmut Schmidt und die Reserve gegenüber dem heutigen Führungspersonal.

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Die deutsche „Rote Armee Fraktion“ und ihre Nachfolgeorganisationen töteten 34 Menschen, die italienischen „Roten Brigaden“ immerhin 97. Beide Organisationen verfügten in der Bevölkerung über einen Rückhalt von wenigen tausend Personen. Trotzdem gelang es ihnen, Staatskrisen herbeizuführen und jede Menge intellektuelles „Verständnis“ zu wecken. Aber wenn die Geschichte des modernen Terrorismus geschrieben wird, dürfte man sie als mehr oder weniger marginale Erscheinungen behandeln, im Grunde unbegreifliche Reaktionen radikalisierter Minderheiten auf sehr wohlhabende, sehr stabile, sehr gut funktionierende Gesellschaftsordnungen. Ganz anders das, was „Dschihad vs. McWorld“ nach sich zieht, nicht nur in bezug auf die Bereitschaft zum großen Massaker, sondern auch im Hinblick darauf, daß er das Zeug hat, sich dem Ziel zu nähern, das jeder Terrorist erreichen will: Popularität.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 11. Dezember in der JF-Ausgabe 51/15.