Ob sich der Westen nach den Anschlägen von Paris in einem Krieg befindet, ist umstritten. Einhelligkeit herrscht jedoch in einer anderen Frage: daß die Terrorakte auch ein Angriff auf westliche Werte seien, auf den westlichen „Way of Life“, die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nicht nur Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner sprach in seinem Kommentar von einem „Kulturkampf“.
Damit verweisen er und andere auf das wichtigste Werk zum Verständnis der modernen Welt: Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“, erschienen 1996. Wer jedoch den längst sprichwörtlich gewordenen Titel zitiert, sollte mehr tun, als ihn nur als Ausweis eigener Belesenheit zu beleihen. Auch den Inhalt des Buches sollte er ernst nehmen und ebenso die Szenarien, die Huntington entwickelt. Allein die entschiedene Verteidigung der Rechtsordnung zu fordern, ist zu kurz gesprungen. Aber dazu später.
Huntingtons Werk teilt das Los vieler Klassiker: oft zitiert, selten gelesen, nie danach gehandelt. Dabei ist seine Analyse unverändert plausibel, sogar noch mehr als bei Veröffentlichung 1996. Das Zerbrechen der Ukraine hat er klar vorhergesehen, ebenso die Konflikte und machtpolitischen Veränderungen in Südostasien, Europa, der islamischen Welt. Keine seiner umfangreich unterfütterten Thesen wurde widerlegt, eine überzeugendere Deutung der heutigen Weltpolitik bisher nicht geliefert. Nehmen wir ihn also ernst.
Was schreibt Huntington? Die Hauptthese dürfte weithin bekannt sein: Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 verlaufen die Konfliktzonen nicht mehr entlang ideologischer, sondern kultureller Grenzen. Diese Grenzen würden wesentlich von der Religion bestimmt, und zwar auch in offiziell säkularen Ländern wie der Türkei, Albanien, Frankreich, Dänemark. Noch immer bilde die Religion und ihr Wertekanon das mit Abstand wichtigste Distinktionsmerkmal. Dies nicht zu sehen, sei „laizistische Verblendung: Die Menschheitsgeschichte zeigt seit Jahrtausenden, daß Religion kein kleiner Unterschied ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann.“ Tatsächlich führe die Globalisierung sogar zur Betonung dieser Unterschiede. In einer immer stärker ökonomisierten, moralischen Werten gegenüber indifferenten Welt seien Religion und Kultur die stärksten Anker der Identität. Viele Länder erlebten daher eine Re-Indigenisierung.
Nicht mehr Kommunismus oder Kapitalismus seien die Scheidelinien, sondern Kulturkreise: westlich, orthodox, muslimisch, sinisch, hinduistisch, buddhistisch etc. Politik werde nunmehr vor allem von kulturellen Gemeinsamkeiten oder Unterschieden bestimmt, der Einfluß von meta-kulturellen Organisationen wie Nato, Uno, ASEAN oder Weltbank zurückgehen. Auch die EU werde einsehen müssen, daß ihre geographischen Grenzen weniger wichtig sind als ihre kulturellen: Das orthodoxe, sich immer mehr an Rußland orientierende Griechenland gehöre so wenig zum westlichen Kulturkreis wie Zypern, Serbien, Rumänien oder Bulgarien – vom muslimischen Bosnien ganz zu schweigen.
Sudan, Libanon, Kaukasus, Ost-Timor – die Beispiele der kulturell unlösbaren Streitigkeiten sind endlos. Weil es zwischen Kulturen keine friedliche Koexistenz geben kann, ist Huntington ein Gegner des Multikulturalismus. Multikulturalismus heißt Massaker.
Zweitens: An den Bruchlinien zwischen den Kulturen werde es zu Konflikten kommen. Auslöser sei immer die demographische Entwicklung, also unterschiedliche Fertilitätsraten. Menschen aus armen Gegenden mit hohen Bevölkerungszahlen würden versuchen, in ökonomisch vorteilhaftere Gegenden zu gelangen. Dagegen und gegen die migrationsbedingte Veränderung der hergebrachten Sitten und Regeln werde sich die indigene Bevölkerung wehren. Zudem wirkten Handel und Entwicklung nicht pazifizierend, sondern konfliktverschärfend. Empirisch sei Globalisierung kein Friedensprozeß, im Gegenteil. Die Zahl der Konflikte werde steigen.
Drittens: Die durch Migrationsströme und Bevölkerungsdruck bedingten Zusammenstöße seien unausweichlich, unlösbar, endlos. „Kriege zwischen Kulturkreisen mögen sporadisch sein, der Konflikt schwelt ewig.“ Da es um Identitäten, Überzeugungen, Glaubensfragen geht, gibt es keine Verständigung. Die einzige Lösung ist die völlige Auslöschung einer Kultur, der Holocaust. Für Kants ewigen Frieden ist in dieser Welt kein Platz; es geht vielmehr um den ewigen Krieg.
Weil es zwischen Kulturen keine friedliche Koexistenz geben kann, ist Huntington ein Gegner des Multikulturalismus. Multikulturalismus heißt Massaker. Sudan, Libanon, Kaukasus, Ost-Timor, Kaschmir – die Beispiele der kulturell unlösbaren Streitigkeiten sind endlos. Nicht ohne Grund sei der Balkan längst wieder balkanisiert, nach blutigen Kriegen.
Schließlich: Der mit Abstand aggressivste Kulturkreis sei der islamische. Re-Indigenisierung, Minderwertigkeitskomplexe, hohe Fertilität sowie ein kriegerischer Missionsauftrag seien Garanten immer neuer Aggressionen. Zudem habe der Islam, anders als der sinische, hinduistische, orthodoxe oder westliche Kulturkreis, keinen eindeutig tonangebenden Zentralstaat, der mäßigend auf kleinere islamische Staaten einwirken könne. Pakistan und Indonesien seien zu weit entfernt vom arabischen Kernland, Saudi-Arabien habe zuwenig Menschen, der schiitische Iran vertrete nur eine Minderheit der Muslime. Auch das mache die Verständigung schwierig.
Über das Verhältnis des islamischen Kulturkreises speziell zum Westen schreibt Huntington: „Wenn Muslime unterstellen, daß der Westen den Islam bekriegt, und wenn Westler unterstellen, daß islamische Gruppen den Westen bekriegen, erscheint die Schlußfolgerung plausibel, daß etwas einem Krieg sehr Ähnliches im Gange ist.“ Wie gesagt: Veröffentlicht 1996, also weit vor dem 11. September, Madrid, London, Amsterdam, Tunesien, Brüssel, Boston, Kopenhagen und den Anschlägen von Paris. Schon damals herrschte nach Huntington so etwas wie Krieg. Und er schreibt auch: „Manche Westler, unter ihnen Präsident Clinton, haben den Standpunkt vertreten, daß der Westen Probleme nicht mit dem Islam, sondern mit gewalttätigen islamistischen Fundamentalisten habe. Die Geschichte der letzten 1.400 Jahre lehrt etwas anderes.“
Die Aussicht auf eine friedliche Lösung sei Selbstbetrug: „Die Ursachen für dieses Konfliktmuster liegen nicht in Übergangserscheinungen wie dem christlichen Eifer des 12. Jahrhunderts oder dem muslimischen Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts. Sie entspringen vielmehr der Natur dieser beiden Religionen und der auf ihr basierenden Kulturen.“ Die Natur des Islam sei aggressiv, ausgerichtet auf Eroberung und Dominanz. Nicht nur mit dem Westen läge er im Krieg, sondern ebenso mit allen anderen Kulturkreisen. Selbst innerhalb der muslimischen Community sei Gewalt das vorherrschende Mittel der Konfliktlösung. Mit dem berühmtesten, oft kritisierten Satz Huntingtons: „Die Grenzen des Islam sind in der Tat blutig, und das Innere ist es ebenfalls. (...) Quantitative Belege aus jeder neutralen Quelle belegen schlüssig die Gültigkeit meiner Aussage.“
Nimmt man die Analyse Huntingtons ernst, gibt es für die Koexistenz von Kulturkreisen zwei Möglichkeiten. In beiden Fällen aber gilt: Religionsfreiheit ist nur die Freiheit zwischen protestantischem, katholischem, eventuell jüdischem und keinem Bekenntnis.
Multikulturalismus als sichere Konfliktquelle, ewiger Krieg, der Islam als untherapierbar gewalttätiger Feind, andere Kulturkreise als Gegner. In einer pazifizierten Gesellschaft, die von Willkommenskultur und der multikulturellen Villa Kunterbunt träumt, macht man sich damit keine Freunde.
Nimmt man die Analyse Huntingtons jedoch ernst, gibt es für die Koexistenz von Kulturkreisen zwei Möglichkeiten. Die eine illustriert Döpfner am Beispiel, daß der Koran zwar in vielen deutschen Hotels ausliege, nicht aber die Bibel im islamischen Raum. Der Gedanke ist die Gewährung kultureller Freiheiten auf Gegenseitigkeit. Wenn andere Kulturkreise westliche Werte ablehnen, sollte dies ebenso umgekehrt gelten. Ohnehin war nie zu verstehen, warum viele den westlichen Kulturimperialismus scharf kritisieren, den islamischen aber begeistert umarmen. Konkret hieße dies: keine Moscheen, keine Gebetsräume, keine Burka, kein Kopftuch, keine religiösen Symbole. Vertrieb und Besitz des Korans wären zu verbieten, ebenso Ditib und sonstige muslimische Organisationen. Schon jede Ausübung der Religion, analog der Situation im Iran oder Saudi-Arabien, wäre zu unterbinden.
Die zweite Alternative wäre der Rückgriff auf ein altes Mittel zur Lösung kultureller Konflikte: Cuius regio, eius religio. Dieser Gedanke geht über den der Gegenseitigkeit hinaus, ist aber das, was viele Kulturkreise tatsächlich leben. Wenn das geistesgeschichtliche Fundament unserer Kultur im weströmischen Christentum liegt, darf nur dieses Christentum hier gelebt werden. Ob auch das Judentum zum kulturellen Selbstverständnis des Westens gehört, seinen Anhängern beispielsweise das Schächten zu gestatten ist, wäre zu erörtern. Gerade die jüdische Geschichte dokumentiert im übrigen die Hartnäckigkeit kultureller Differenzen – wie auch das Potential der Grausamkeiten, die mit solchen Konflikten einhergehen.
In beiden Fällen aber heißt dies: Religionsfreiheit ist nur die Freiheit zwischen protestantischem, katholischem, eventuell jüdischem und keinem Bekenntnis. Damit stellt Huntington die vielleicht unangenehmste Frage: ob Constitution, Grundgesetz und sonstige westliche Verfassungen nur die Konstruktionen eines naiv-optimistischen Weltbildes sind, entstanden in einer Zeit westlich-kultureller Dominanz und vor Massenvernichtungswaffen, Globalisierung und Migrationsströmen. Und ob die dort gewährten religiösen Freiheiten nicht längst die eigenen Fundamente bedrohen.
Dr. Nicolaus Fest, Jahrgang 1962, arbeitete seit 2001 bei der Bild, von 2013 bis 2014 als stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag. Der an der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte Jurist wuchs in Hamburg und Frankfurt auf. Er arbeitete einige Jahre für das Auktionshaus Sotheby’s und später für die Verlage Ebner Pressegesellschaft sowie Gruner + Jahr.
Foto: Von Muslimen verwüstete Kirche im syrischen Homs: „Die Menschheitsgeschichte zeigt seit Jahrtausenden, daß Religion kein kleiner Unterschied ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann“ (Samuel Huntington)