© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

Keine Kritik an den humanitären Kriegen
Auch Henry Kissinger nennt keine brauchbaren Konzepte, den „Krieg der Kulturen“ mittels kollektiver Sicherheitsstrukturen einzuhegen
Felix Dirsch

Henry Kissinger übt auch noch Jahrzehnte nach seiner Tätigkeit als Außenminister Einfluß als politischer Berater, aber auch als scharfer Analytiker aus. Als Historiker, der sich stets im universalgeschichtlichen Rahmen bewegt, legt er schon seit einiger Zeit breit rezipierte Werke vor, etwa vor zwei Jahrzehnten „Diplomacy“.

Sein neuestes Buch trägt den Titel „Weltordnung“. Der Gelehrte mit Wurzeln im fränkischen Fürth kann an frühere Untersuchungen anschließen, die sich mit der Frage der Macht und deren Ausbalancierung beschäftigen. Zuerst werden Genese und geschichtliche Besonderheiten der Ordnungsmächte Europas herausgearbeitet. Ein wichtiges Spezifikum ist der Pluralismus, der früh angelegt ist. Das „liberale System“ (Ernst Nolte), das sich auf diesem Kontinent bildete, besteht aus verschiedenen konkurrierenden Elementen, von denen Kirche und Königtum hervorstechen. Keines von ihnen kann sich auf Kosten des anderen durchsetzen.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg kristallisieren sich über lange Zeit gültige Ordnungsstrukturen heraus. Im Westfälischen Frieden erhalten die Staaten eine exzellente Rolle als Völkerrechtssubjekte, nicht aber die gleichfalls wichtigen Religionsgemeinschaften. Welche große Relevanz Kissinger der wirkmächtigen Konstruktion von 1648 beimißt, wird in seiner Argumentation überall deutlich. Schon am Anfang der Studie erörtert er die Sicht der USA auf diesen frühen Versuch der Schaffung kollektiver Sicherheit.

Die Französische Revolution machte ein neues Gleichgewicht der Kräfte nötig. Der Wiener Kongreß kam um einen neuen Entwurf nicht herum. Legitimität und Macht mußten unter veränderten Bedingungen ausbalanciert werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat in wohlbestimmter Hinsicht Bismarck an die Stelle, die in der ersten Metternich eingenommen hatte. 

Im späten 19. Jahrhundert wurde der Einfluß der USA immer größer. Kissinger stimmt dem „realistischen“ Kurs Präsident Theodor Roosevelts eher zu als dem des „Idealisten“ Woodrow Wilson, dessen „Völkerbund“-Ambitionen sich bald als gescheitert herausstellen sollten. Der Minderheitenschutz in den nach 1918 geschaffenen Nationalstaaten Mittel- und Osteuropas erwies sich als überaus schwierig bis faktisch unmöglich, was die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit bedingte. Erfreulich ist, daß Kissinger nicht nur auf den Westen fixiert ist. Der Nahe Osten wird ebenso analysiert wie die politische Gemengelage in Asien. Freilich kommt der amerikanischen Außenpolitik, besonders im Kalten Krieg, besondere Aufmerksamkeit zu. 

Ein Kapitel der Monographie trägt die Überschrift „Um der Menschheit willen“ und zeigt Grundlinien des Agierens der USA auf der Weltbühne auf. Etliche der Urteile erscheinen naiv. Es ist kaum überraschend, daß Kissinger keine Anstalten erkennen läßt, die „humanitären Kriege“ (Carl Schmitt), die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes ziehen, angemessen kritisch abzuhandeln. 

Kissinger ignoriert Folgen  der NSA-Affäre für die USA

Natürlich hat Kissinger als Akteur in vielerlei Hinsicht nicht die nötige Distanz zu den Geschehnissen. Viele eklatante Widersprüche der US-Politik werden von ihm einfach übergangen. Zwar hat sich die nach 1989 vermeintlich „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) um kollektive Sicherheitseinrichtungen wie die Vereinten Nationen bemüht; jedoch wurde die Staatengemeinschaft eins ums andere Mal düpiert, zuletzt durch den Widerstand, die Urteile des Internationalen Strafgerichtshofes zu akzeptieren. 

Weiterhin sind die fingierten Gründe für den zweiten Irak-Krieg zu erwähnen. Es wäre wohl auch zuviel verlangt von einem „Realpolitiker“ wie Kissinger, der noch dazu aus der explizit „realistisch“ genannten politikwissenschaftlichen Schule Hans Morgenthaus stammt, im Abschnitt über den Afghanistan-Krieg die notorischen Schizophrenien der US-Politik klar beim Namen genannt zu bekommen. Weithin bekannt sind Waffenlieferungen an die Mudschaheddin, als diese noch gegen die Sowjetunion kämpften.

Es ist durchaus zu begrüßen, daß der mittlerweile 92jährige das rasante Vordringen von Computertechnik und Internet zur Kenntnis nimmt. Die Snowden-Affäre mit ihren einschneidenden Konsequenzen wird allerdings komplett ignoriert. Daß dadurch das Vertrauen der Staatengemeinschaft in die USA aufgrund der offenbarten Rücksichtslosigkeiten gegenüber den Alliierten tangiert und der Aufbau tragfähiger Ordnungsstrukturen in der Gegenwart nachhaltig erschwert wird, liegt auf der Hand.  

Natürlich wäre es zuviel verlangt, von Kissinger zu erwarten, eine zukunftsfähige Weltordnung in allen Details vorzustellen. Ärgerliche Polit-Floskeln wie der Vorschlag, „das Notwendige zu tun“, sind wenig substantiell. Insofern ist der neueste Wurf eben kein großer. Historiographische Fähigkeiten wird dem einst hochrangigen politischen Akteur niemand absprechen. Die Übersetzung ist insgesamt hölzern. Sie verändert zudem das Original manchmal in sein Gegenteil. Der amerikanische Senat hat natürlich nicht den Beitritt der UdSSR zum Völkerbund abgelehnt, wie es in der Übertragung heißt, sondern den des eigenen Landes, was in der Tat für den US-Präsidenten Wilson eine bittere Niederlage darstellte.

Henry Kissinger: Weltordnung. Verlag C. Bertelsmann, München 2015, gebunden, 478 Seiten, 24,99 Euro