Während Luchse in Deutschland, der Schweiz und Österreich das ganze Jahr über streng geschützt sind, dürfen sie in einigen skandinavischen und baltischen Staaten zumindest saisonal bejagt werden. Aber nicht nur dort ist der Mensch der ärgste Feind des Eurasischen Luchses (Lynx lynx). Wilderei und Kollisionen mit Autos setzen der Art in fast allen Ländern Europas zu, in denen die Samtpfoten noch oder wieder vorkommen.
Wie sich die Bedrohung durch Mensch und Straßenverkehr auf das Verhalten weiblicher Luchse mit Neugeborenen auswirkt, haben nun Wissenschaftler in Norwegen untersucht. Ergebnis: Luchsweibchen wählen den Standort für den Bau, in dem sie ihre Jungen zur Welt bringen und in deren ersten Lebenswochen verstecken, gezielt so, daß menschliche Siedlungen und öffentliche Straßen maximal entfernt sind. Dafür nehmen sie auch ein deutlich geringeres Nahrungsangebot in Kauf (Journal of Zoology, Band 297, S. 87-98, 10/15).
Die von den Luchsinnen gewählten Habitate rund um den Bau wiesen im Untersuchungsgebiet im Durchschnitt rund 30 Prozent weniger Rehbestand auf. Rehe machen in fast allen Verbreitungsgebieten, so auch in Norwegen, rund 80 Prozent der Nahrung eines Europäischen Luchses aus – jener Unterart des Eurasischen Luchses, die in Westeuropa, Skandinavien und Nordosteuropa heimisch ist.
Das Forscherteam um John Linnell vom Norwegischen Institut für Naturforschung in Trondheim hatte für seine Studie im Süden und Norden Norwegens die Streifgebiete besenderter Luchse ermittelt und die Baue von Muttertieren ausfindig gemacht. Das gesammelte Datenmaterial wurde anschließend abgeglichen mit Daten zur Lage menschlicher Siedlungen sowie öffentlicher und privater Straßen wie auch mit vorhandenen Werten zur Populationsdichte von Rehen im Untersuchungsgebiet.
Je dichter besiedelt, desto scheuer das Muttertier
Luchsweibchen wählten laut der Studie für ihre Jungen im Wald regelmäßig Verstecke, die auf zerklüftetem und für Menschen schwer zugänglichem Terrain liegen. Eine solche Lage des Baus, so die Studie, reduziere „Störungen und das Sterberisiko, indem der Zugang für Menschen eingeschränkt wird“. Dieses Vermeidungsverhalten ist auch von Braunbären, Wölfen und Vielfraßen bekannt.
Öffentliche Straßen in der Umgebung mieden die Muttertiere bei der Wahl der Wurfhöhle konsequent. Luchse ohne Nachwuchs akzeptierten dagegen die Nähe von Menschen viel eher, wenn das Nahrungsangebot stimmte. In Südnorwegen, fanden die Forscher heraus, hielten sich die Muttertiere in Gegenden auf, in denen statistisch nur 2,4 Menschen je Quadratkilometer leben. Bei Luchsen ohne Junge betrug dieser Wert 12,7.
Der Zahlenvergleich zwischen dem kaum besiedelten Norden Norwegens und dem dichter besiedelten Süden zeigt auch: Je dichter der Luchs-Lebensraum von Menschen besiedelt ist, desto menschenscheuer verhalten sich die Muttertiere. Ein weiterer Befund: Luchse ohne Nachwuchs wählten – anders als Artgenossinnen mit Jungen – auch Habitate, die weniger wild und zerklüftet sind.
Luchsweibchen suchen sich ähnlich wie Dachs, Fuchs, Bären oder Raubkatzen wie Tiger und Gepard vor der Geburt Wurfhöhlen, graben diese aber nicht selbst. „Für das Überleben der Jungen sind sichere und gut getarnte Baue Voraussetzung“, schreiben die Forscher. Vor allem dienten sie den zwei bis vier Jungen als Schutz vor Freßfeinden und den Unbilden der Witterung.
Insbesondere in den sechs bis acht Wochen, in denen die Jungen nur von Muttermilch leben, muß die Luchsin bei der Jagd sehr erfolgreich sein, um genügend Milch geben zu können. Dabei muß sie aber in der Nähe des Baus bleiben.
Die Forscher fragten sich, wie die Mutter unter diesen Bedingungen in einem Habitat mit geringer Rehdichte überhaupt genug Beute schlagen kann. Die Erklärung sehen sie in der enormen Effizienz, mit der Luchse jagen.
Verbotene Jagd setzt dem Luchs in Norwegen stark zu
Etwa die Hälfte der neugeborenen Pinselohren übersteht die ersten zwölf Lebensmonate. Die andere Hälfte fällt Auszehrung, Krankheiten, Freßfeinden oder indirekt dem Menschen zum Opfer, wenn das Muttertier durch Wilderei oder – hauptsächlich – dem Straßenverkehr getötet wird. In Norwegen ist illegale Jagd laut der Studie Haupttodesursache von Luchsen. Der Bestand dort wird auf rund 600 Tiere geschätzt. Europaweit gibt laut WWF 9.000 bis 10.000 Luchse, verteilt auf mehrere Unterarten wie den Europäischen Luchs und den Karpatenluchs.
Titel der Studie: „Eurasian lynx natal den site and maternal home-range selection in multi-use landscapes of Norway“
Journal of Zoology: onlinelibrary.wiley.com