© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Die Zentralbanken sollen an der Zinsschraube drehen
Insolvenzverschiebung
Philipp Bagus

Es ist ein Déjà-vu. Die Zinsen liegen nahe Null. Die US-Wirtschaft scheint sich zu erholen. Eine Zinserhöhung wurde durch die Fed mehrfach in Aussicht gestellt, und auch die meisten Analysten erwarten einen solchen Schritt für die nächste Notenbanksitzung. Dieses Szenario bot sich schon mehrere Male. Aber letztlich kam es nie dazu, die Zins­erhöhung wurde weiter verschoben.

Wird es dieses Mal wieder so sein? Unrealistisch ist dies trotz gegenteiliger Analystenmeinung nicht. Denn Ausreden, um eine Zinsanhebung zu verschieben, sind bequem: Einmal sind es enttäuschende Arbeitsmarktdaten, dann eine sich abzeichnende Krise in China oder Brasilien, Börsenturbulenzen, oder ganz allgemein Gefahren für die Weltwirtschaft. Vielleicht sind es nun die Terroranschläge von Paris, die zu einer erneuten Verschiebung führen. Zentralbanker sind vorsichtige Menschen. In ihren Augen sind die Preise derzeit stabil, denn sie berücksichtigen nur die Konsumentenpreise, nicht die Vermögenspreise. Die Notenbankfunktionäre fürchten im Moment eher eine Preisdeflation. So haben sie wenig Grund, ihre Geldpolitik zu korrigieren.

Die EZB denkt sogar darüber nach, ihre Anleihekäufe auszudehnen. Erhöhen die Zentralbanker ihre Zinsen, dann könnte das negative Auswirkungen auf die Konjunktur haben. Es könnte zur Rezession kommen. Warum sollten sie eine Rezession riskieren, wenn von der Inflationsseite keine Gefahr droht? Und: Traditionell verkehren und sprechen Notenbankbeamte mehr mit Akteuren von den Finanzmärkten als beispielsweise mit Konsumenten oder Sparern. Daß die Finanzmarktakteure an einer Fortsetzung der Nullzinspolitik interessiert sind, steht außer Frage. 

Zudem wird das Ende der Nullzinspolitik mit der Zeit immer schwieriger: Niedrige Zinsen regen zu Verschuldung an und machen einen Schuldenabbau weniger attraktiv. Damit wurden nicht zuletzt immer höhere Staatsverschuldungen alimentiert. Eine Rückführung der Zinsen auf höhere Niveaus würde einen starken Druck auf Regierungen ausüben, ihre Ausgaben zu kürzen. Manche Staaten könnten gar in die Insolvenz getrieben werden, vor allem in der Eurozone, wo sieben von 19 Staaten Schuldenstände von über 100 Prozent des BIP haben. Zentralbanker werden jedoch weder Interesse daran haben, Staatsbankrotte auszulösen, noch den Euro zu sprengen.

Ferner haben sich in der Privatwirtschaft viele Akteure an die Nullzinspolitik gewöhnt; zahlreiche Geschäftsmodelle hängen vor allem in der Finanzwirtschaft von ihr ab. Die Folgen von radikalen Zins­erhöhungen wären unabsehbar. Sie könnten eine krachende Bereinigung auslösen – aber genau davor schrecken Zentralbanken seit der Lehman-Pleite 2008 zurück. Möglicherweise wird die Fed auch dieses Mal Vorsicht walten lassen und sich noch mehr in der Nullzinsfalle verstricken.