© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Alles dreht sich ums liebe Geld
Quintessenz der Werte: Ulrich Peltzer beleuchtet mögliche Fundamente eines besseren Lebens
Felix Dirsch

Wer grundlegende Tendenzen der Welt nach 1989 benennen will, darf folgende nicht außer acht lassen: den Aufstieg des globalen, primär digital strukturierten (Finanz-)Kapitalismus, der die Souveränität der Nationalstaaten zusammen mit Entwicklungen wie den Migrationsströmen und der Umweltkrise zunehmend depotenziert; die neue ökonomische Macht einstiger Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien; ebenso die Versuche, Widerlager gegen eine ausschließlich amerikanische Moderne zu finden, wie sie vornehmlich einige islamische Staaten und terroristische Gruppierungen zu schaffen versuchen.

Wo aber bleibt der einzelne im Rahmen dieser politökonomischen Großwetterlage? „Haltende Mächte“ (Hans Freyer), die einst Kirchen, Staat und Familie repräsentiert haben, verlieren in der westlichen Welt tendenziell an Bedeutung. Traditionelle Milieus sind bis auf Restbestände erodiert.

Angesichts dieser Entwicklung fungiert als Quasi-Gott das Individuum, das auf sich alleine gestellt ist, wenn es darum geht, basal-existentielle Fragen, die sich nicht verdrängen lassen, zu beantworten: Wie wird mein Leben gut? Wie wird es vielleicht sogar besser? Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ulrich Peltzer ist diesen Fragen in einem großangelegten Collageroman nachgegangen.

Die Welt ist unüberschaubar-polyzentrisch geworden. Das spiegelt sich in der anonymen Macht der Finanzmärkte, die überall und nirgends wirken. Peltzer überträgt diese Unübersichtlichkeit dadurch in seine Erzählung, daß er auf einen ordnenden roten Faden ebenso verzichtet wie auf einen Plot. Den Roman durchziehen viele Dialoge. Das Gravitationszentrum der Unterhaltungen dreht sich – wen verwundert es? – um das liebe Geld. Nur was sich in Geld umsetzen läßt, führt zu einem geglückten Leben. Erst am Ende kommen, im Rahmen des diamantenen Ehejubiläums der Eltern der Gebrüder Brockmann einige religiöse Versatzstücke in Form eines bekannten Kirchenliedes vor, das von den Feiernden gesungen wird. 

Einer der Protagonisten der unterschiedlichen Schilderungen, der Sales Manager Jochen Brockmann, ein frisch verliebter Ex-Linker, dessen Biographie im Laufe der Zeit immer mehr ausgebreitet wird, will an einer Stelle wissen, welchen Wert elliptische Kurven besitzen. Kann man sie praktisch anwenden, um die Welt zu verbessern? Der mathematisch kompetente Gesprächspartner ist ob dieser Frage nicht wenig erstaunt.

Ein anderer Geschäftspartner und Diskutant ist Sylvester Lee Fleming, der sich als skrupelloser Profitgeier, Investor und Risikoberater entpuppt. Seine Funktion ist nicht ganz klar. Ist er Retter, Verführer oder Versucher? Brockmann braucht Geld, und er bekommt von der Bank keines mehr. So entsteht der Kontakt zu Fleming.

Das sind zwei Figuren in einer unüberschaubaren Vielzahl von Gestalten, und der Erzähler bedient sich dabei der literarischen Technik des Bewußtseinsstromes – Peltzer schreibt das auf, was die Figuren gerade denken. In dieser Vorgehensweise kann man sich durchaus an James Joyce erinnert fühlen. Da Gedanken oft aus Halbsätzen bestehen oder wild durcheinander von einem Thema zum nächsten springen, ist das Ergebnis ein manchmal schwer durchschaubarer Text-Wirrwarr.

Starke Orientierung unter totalitären Bannern

Peltzer beleuchtet nicht nur Charaktere, die dem Geld hinterherhecheln, als wäre es die Seligkeit. Weiter finden sich Diskurse zwischen Menschen, die Zeitgenossen einer ganz anderen Epoche gewesen sind: nämlich der von dominanten Ideologien und dem Totalitarismus. Da tauchen Namen wie Gustav Regler, Georg Lukács und Ruth Fischer auf. Die Ideale solcher Überzeugten aus dem KP-Umfeld sind sicherlich andere als die der modischen Neoliberalen, die als Trendsetter des heutigen Zeitgeistes gelten. Vergleicht man die unterschiedlichen Ziele der Gespenster der Vergangenheit mit dem, was die „Metaphysik des 21. Jahrhunderts“ ausmacht, so ist die Wertung nicht einfach. Leben wir mobilen bindungslosen Geister der individualistischen Gegenwart besser als diejenigen, die sich vor Jahrzehnten unter den verschiedenen totalitären Bannern sammelten und von einem geschlossenen Gedankengebäude, das starke Orientierungen stiftete, zusammengehalten wurden? Auch Peltzer kann darauf keine Antwort geben. Gerade diese faktengesättigten zeitgeschichtlichen Schilderungen zeigen jedoch, daß es sich bei dem 58jährigen um einen gebildeten Autor handelt.

Es braucht Kraft, um diesen Roman durchzustehen. Der Rezipient benötigt Konzentration, die Bedeutung der verschiedenen Unterhaltungen und ihren jeweiligen Zusammenhang zu durchschauen. Um die Wortmächtigkeit genießen zu können, bedarf es einiger Geduld. Wer aus einem Roman vor allem eine Art von Genuß ziehen will, wird von der Lektüre nicht befriedigt.

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015, gebunden, 446 Seiten, 22,99 Euro