© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil und die Folgen für die Kirche
Der Pferdefant
Guido Rodheudt

Im Dom zu Brixen – näherhin in seinem Kreuzgang – findet sich das Bild eines kuriosen Tieres, das es eigentlich nicht gibt. Die Ausmalung stammt aus dem 15. Jahrhundert. Hoch am Gewölbe sieht man ein schlankes Pferd mit einem zur Trompete gerollten Elefantenrüssel. Auf dem Rücken ein hölzerner Gefechtsturm mit eisernen Rittern. Unter dem Bauch hingestreckt ein Verteidiger mit gezackter Lanze, der dieses Tier – eine Mischung aus Pferd und Elefant – gleich töten wird.

Dargestellt ist hier eine Szene aus dem Alten Testament. Wie Eleazar in einer Schlacht bei Jerusalem gegen die Syrer einen gewaltigen Kriegselefanten erlegt. Leonhard von Brixen, der Maler, wußte nur vom Hörensagen, wie Elefanten aussehen. Und heraus kam ein „Pferdefant“, ein Pferd mit trompetenartigem Rüssel. Als dann ungefähr hundert Jahre später, im Dezember 1551, tatsächlich ein leibhaftiger Elefant durch das Eisacktal trabte, den man über den Brenner nach Wien trieb, war das Erstaunen groß ob des wirklichen Aussehens des Tieres. Denn man hatte ja über hundert Jahre geglaubt, es zu wissen, weil es da dieses Bild aus dem Kreuzgang gab. Nun hatte die Wirklichkeit das Bild eingeholt und beschämte alle, die vom Hörensagen her sicher waren, zu wissen, wie ein Elefant aussieht.

Bis heute zeigt der „Pferdefant“ von Brixen, was herauskommt, wenn man sich auf das Hörensagen verläßt.

Das Zweite Vatikanische Konzil, dessen Abschluß sich am 8. Dezember dieses Jahres zum 50. Mal jährt, teilt das Schicksal der Brixener Chimäre. Denn das, was man über die folgenreiche Versammlung der katholischen Bischöfe der Welt zu sagen pflegt, das, was man gemeinhin über das Konzil zu wissen glaubt, und was in populistischer Weise von ihm in Umlauf gebracht wird, entstammt ebenfalls nicht selten dem Hörensagen. Wie der Pferdefant setzt sich das Image des Konzils aus oft ungeprüften Versatzstücken zusammen, bestehend aus Forderungen, Absichten und Konsequenzen, die teils mit, teils ohne Rückhalt in den Konzilstexten an die Kirchenwände des ausgehenden 20. Jahrhunderts gemalt wurden. Die Quelle nicht selten: das Hörensagen.

Schlaglichter sind: das „Aggiornamento“, ein Begriff, mit dem Papst Johannes XXIII., der das Konzil im Oktober 1962 eröffnete, eine „Verheutigung“ der Kirche gefordert hatte, die liturgischen Änderungen und Neuerungen – am griffigsten festgemacht an einer angeblichen Notwendigkeit, die Altarräume in den Kirchen umzubauen, damit der Priester die Messe obligatorisch in der Landessprache vis-à-vis der Gemeinde zugewandt feiern kann, eine bis dahin unbekannte Demokratisierung des kirchlichen Lebens und eine Relativierung der hierarchischen Strukturen und – last but not least – die Rückstufung des bisherigen katholischen Anspruchs, die wahre, von Jesus Christus gestiftete Kirche zu sein, zugunsten der Anerkennung anderer möglicher Heilswege in christlichen Konfessionen und anderen Religionen.

Die „Verheutigung“ hinterließ den Eindruck einer Selbstrelativierung, was den Wahrheitsanspruch der Lehre und die Exklusivität der damit verbundenen Heilswege angeht. Dadurch entstand das chimärenhafte Bild des Konzils, das im selben Moment eine Erneuerung der Kirche in Aussicht stellt, in dem es sie – gemäß dem populistischen Klischee – in ihrer bisherigen Gestalt abzuschaffen scheint.

Statt zweckfreier Ausrichtung auf Gott durch den Priester, der sich ihm sichtbar gemeinsam mit der Gemeinde am Altar zuwandte, war nun der Mensch der Fluchtpunkt des Geschehens. Die Liturgie entglitt zu einer subjektivistischen Performance. 

Ohne eine Prüfung, ob diese Absichten durch die Texte des Konzils gedeckt sind und überhaupt ohne eine gründliche Rezeption der Dokumente wurde sehr schnell ein „Geist des Konzils“ entdeckt, dessen Wehen man zwischen den Zeilen wahrzunehmen glaubte. Alle maßgeblichen Usurpatoren der Deutungshoheit des Konzils berufen sich bis heute auf ihn wie auf einen Blankoscheck, um die in den 1960er Jahren aufkommende Theologie der Entmythologisierung, die Sucht der damaligen Zeit nach kritischem Bewußtsein und nach einer daraus folgenden Entsakralisierung zu einem phänotypischen Generalprogramm der katholischen Kirche zu stilisieren.

Statt das Wort vom „Aggiornamento“ so zu verstehen, wie Johannes XXIII. es in Wahrheit verstanden hat, nämlich als eine pastorale, das heißt strategische und methodische Maßnahme, um die „Welt von heute“ mit mehr Heiligem Geist zu erfüllen und also besser und effizienter die alten, unveränderten Ansprüche der kirchlichen Sendung „unters Volk“ zu bringen, erblickte man darin eine „Öffnung zur Welt“, ein Aufreißen der Kirchenfenster mit dem Zweck, die neue Luft des Zeitgeistes hereinzulassen.

Anläßlich des 50. Geburtstages dieser Öffnung ist man heute lange nicht mehr allein mit der skeptischen Frage, ob dies die wahre Absicht des Konzils war, und man darf dem Verdacht nachgehen, daß bei dieser Öffnung weniger Zu- als Abluft in die Kirche eingedrungen ist, mit der man versuchte, die alten Wahrheiten herauszupusten. Befeuert wird dieser Verdacht nicht zuletzt durch ein Wort Papst Pauls VI., der – als Nachfolger Johannes XXIII. ab dem Jahre 1963 der eigentliche „Papst des Konzils“ – Jahre nach seinem Abschluß, am 29. Juni 1972, feststellte, daß der „Rauch Satans“ in die Kirche eingedrungen sei. Bereits am 7. Dezember 1968 hatte er in einer Rede von der „Selbstzerstörung“ der Kirche durch Unruhe und Selbstkritik gesprochen, die er eine „innere Erschütterung“ nannte, „die niemand nach dem Konzil erwartet hätte“.

Nun verstand sich das Zweite Vatikanum erstmalig in der Geschichte der Kirche als „Pastoralkonzil“, das sich in einer Sprache äußerte, die – ebenfalls premierenhaft – weniger von Präzision als von poetischer Unschärfe gezeichnet war. Dies bot weit mehr an Interpretationsspielraum, als dies frühere Konzilstexte mit klarer dogmatischer und administrativer Diktion zugelassen hätten. Ein Versuch, die innere Inkompatibilität von Kirche und Welt auf dem Gebiet des Pastoralen zu harmonisieren.

Ein klassisches und für jeden nachvollziehbares Beispiel dafür sind die Veränderungen der katholischen Liturgie „im Zuge des Konzils“. War bislang die Liturgie von Zweckfreiheit und Geheimnishaftigkeit getragen, so sollte sie nun durchschaubarer und verständlicher werden. Die Versammlung beschloß seelsorgliche Bemühungen zur liturgischen Unterweisung und eine Erneuerung der Riten.

Die hier auffällige begriffliche Unschärfe bei der Weichenstellung führte dazu, daß die auf dem Konzil nahezu einstimmig gefaßten Grundsatzbeschlüsse der Bischöfe zur Liturgie – denen sich übrigens auch der später gerügte und exkommunizierte „Traditionalistenbischof“ und Gründer der Priesterbruderschaft St. Pius X., Marcel Lefebvre, nicht entzogen hatte – in der Umsetzung durch die dem Konzil nachfolgende Liturgiereform Ende der 1960er Jahre zur Kreation einer „Neuen Messe“ instrumentalisiert wurden. Das alte Gemälde wurde nicht entstaubt und zu neuem Glanz gebracht, es wurde neu gemalt. Viele der Bischöfe, die ihren Willen zur Vertiefung der Liturgie in den Herzen der Gläubigen auf dem Konzil kodifiziert hatten, mußten nun entgegen ihrem Willen mit ansehen, wie aus der versuchten Vertiefung Banalisierung wurde.

So kam es zu dem widrigen und die Authentizität der Kirche gefährlich tangierenden Umstand, daß das, was bis dahin zur einheitlichen und globalen Formensprache des katholischen Kultes gehörte, heute landauf, landab weitgehend nicht mehr zu finden ist. Die Ausrichtung auf Gott, die zweckfreie rituelle Zelebration zeitüberhobener Wahrheiten, wurde von pastoralen Methoden der Unterweisung abgelöst.

Statt zweckfreier Ausrichtung auf Gott durch den Priester, der sich ihm schon rein äußerlich unmißverständlich gemeinsam mit der Gemeinde am Altar zuwandte, war nun der Mensch der Fluchtpunkt des Geschehens. Und folglich entglitt die Liturgie am Ende allüberall – weit über das hinaus, was in den Gestaltungsspielräumen als möglich erachtet wurde – zu einer subjektivistischen Performance.

Die hehren Absichten des Konzils fallen in seiner Zeit auf den bereits durch die marxistische „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule beackerten Boden einer damals noch jungen Nachkriegsgeneration, für die vor allem wichtig war, alte Zöpfe abzuschneiden. 

Obwohl das Konzil selbst mit keinem Wort die sogenannten „Volksaltäre“ obligatorisch eingeführt hat, stehen sie fast überall. Obwohl in den Konzilsbeschlüssen zur Liturgie das Latein nach wie vor als die eigentliche identitätsstiftende Kultsprache betrachtet wird, feiert die Kirche die Messe beinahe ausschließlich in der Landessprache. Obwohl die liturgischen Bestimmungen des Konzils den zeitlosen lateinischen Kultgesang des Gregorianischen Chorals wie kein Konzil zuvor wertschätzen und ihn zum integralen Bestandteil der westlichen Liturgie erklären, verschwindet er im selben Moment fast gänzlich aus der Praxis.

Und mehr noch als das: Weitab von den ursprünglichen Prinzipien des Kultes sind Banalität und Uneigentlichkeit in den Gottesdiensten die Regel geworden. So sehr, daß alle Versuche, wie derjenige Papst Benedikts XVI., durch die Wertschätzung und Zulassung der vorkonziliaren „Alten Messe“ als alternativem Wahl-Ritus der Kirche eine wichtige Ader ihrer Identität zurückzugeben, gemeinhin als ein Angriff auf das Konzil verstanden werden.

Was auf dem Gebiet des Sinnenfälligen zu den prominentesten Folgen des Konzils gehört, läßt sich auf theologischem, gesellschaftspolitischem, kulturellem und seelsorglichem Gebiet ebenso festhalten: Es gibt einen tiefgreifenden Dissens zwischen dem, was das Zweite Vatikanum formuliert hat, und dem, was davon verstanden und von den Besitzern der Deutungsvollmacht in den Bezirk des Hörensagens entlassen wurde.

Ursächlich ist dabei fraglos die Unschärfe der Sprache und daneben ein weiterer wichtiger, vielleicht alles entscheidender Umstand: der historische Zeitpunkt, an dem das Konzil die Fenster zur Welt geöffnet hat, nämlich inmitten der denkerischen Unruhe der 1960er Jahre und ihrer inwendigen Abwendung von allem Objektiven, Zweckfreien, Schönen und Wahren.

Die hehren Absichten des Zweiten Vatikanum fallen in seiner Zeit – vor allem in Deutschland – auf den bereits durch die marxistische „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule beackerten Boden einer damals noch jungen Nachkriegsgeneration, für die vor allem eines wichtig war: alte Zöpfe abzuschneiden. Die Ohren waren bereits verstopft für alles, was nach Kontinuität roch. Diskontinuität war ein neues Ideal, das auch vor der Kirche nicht haltmachte.

Die konziliaren Versuche, einem zeitgeistlichen Paradigmenwechsel zu begegnen, die Klaus Hemmerle einmal so beschrieb: „Keine andere Kirche, aber Kirche anders! Keinen anderen Gott, aber Gott anders!“, mutierten noch vor einer wirklichen Rezeption des Konzils in die dort noch ausgeschlossene Neukonstruktion von Glaube und Kirche und Liturgie. Aus dem Konzil wurde ein Freibrief zur Ablösung von der Tradition als dem wohl obsoletesten Begriff der 1960er Jahre. Der Ozeandampfer, den die katholische Kirche bis dahin im Meer der Beliebigkeiten darstellte, war damit leckgeschlagen. Sie hatte ihre Eindeutigkeit aufgegeben. Und das zur Unzeit hermeneutischer Urständ des Kritizismus der Achtundsechziger-Revolution.

Wie alle Revolutionen hat auch diese mittlerweile ihre Kinder gefressen. Wenn die Gotteskinder nicht zu ihnen gehören wollen, sollten sie darangehen, sich dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu seinem 50. Geburtstag so zu nähern, wie die Südtiroler weiland dem realen Elefanten, den sie mit Staunen von der Chimäre zu unterscheiden lernen mußten, für die sie das Tier bislang gehalten hatten.






Dr. Guido Rodheudt, Jahrgang 1964, ist katholischer Gemeindepfarrer im Bistum Aachen. Der promovierte Philosoph war im Jahre 2001 Mitbegründer des Netzwerks katholischer Priester und richtet seit 2009 die jährlich stattfindende Kölner Liturgische Tagung aus, die größte traditionsorientierte Fachkonferenz zu Fragen der Liturgie im deutschen Sprachraum.