© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Die Vermessung der Schubladen
Integration: Eine Tagung an der Humboldt-Universität versucht, die Einwanderung in Worte zu fassen
Cornelius Persdorf

Mit Verve verdeutlicht Aydan Özoguz ihren Standpunkt: „Wir haben ein Schubladen-Problem.“ Dieses Problem besteht nach Meinung der Migrationsbeauftragten der Bundesregierung darin, daß sich Sozial- und Kulturwissenschaftler nicht auf eine trennscharfe Kategorisierung von Personen mit Einwanderungshintergrund einigen könnten. In welchen Fällen spricht man von Menschen mit Migrationshintergrund, in welchen von Ausländern? 

Die Staatsministerin schlug in der vergangenen Woche bei einer Tagung zum Thema Migrationsforschung im Senatssaal der Humboldt-Universität einen kurzen historischen Bogen von den Begriffen Gastarbeiter und Ausländer bis hin zur „Person mit Migrationshintergrund“, der heute offiziellen Vokabel des Statistischen Bundesamtes. Özoguz’ anekdotenreiche Begriffsentwicklungsgeschichte wimmelte voller Stilblüten wie beispielsweise „ausländische Mitbürger“ und weiteren Kuriositäten:  „Wir haben mittlerweile mehr Deutsche mit Migrationshintergrund als Ausländer mit Migrationshintergrund“, eine Folge der häufigen Einbürgerungen. 

Anstatt jedoch den Begriffswirrwarr durch Präzisierung zu vereinfachen, gab sich die SPD-Politikerin lieber dem Gedankenspiel hin, die Geschichte der Migration auf deutschem Boden mit dem Kriegsende 1945 beginnen zu lassen und nicht erst mit Gründung der Bundesrepublik 1949. Der Grundgedanke dahinter: Die deutschen Heimatvertrieben seien ja schließlich auch irgendwie Migranten. Diese „Dekonstruktion“ des Begriffes schien auch Naika Foroutan eine Herzensangelegenheit zu sein. Die stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) fragte den langgedienten Mikrozensus-Beauftragten des Statistischen Bundesamtes, Gunter Brückner, warum Heimatvertriebene und ihre Angehörigen nicht als „Personen mit Migrationshintergrund“ zählen. 

Keine ethnischen Kriterien in Frankreich

„Es ist im Prinzip ganz einfach“, erwidert der gestandene Amtmann. „Weil sie zum Zeitpunkt der Vertreibung deutsche Eltern hatten.“ Die promovierte Kulturwissenschaftlerin läßt nicht locker: „Dann spielt also die Migration als Merkmal keine entscheidende Rolle?“ fragte sie. „So könnte man es sagen, ja“, antwortet Brückner knapp. 

Hinter dem Erkenntnisreichtum dieses kurzen Wortwechsels blieben die anderen Diskussionsrunden hingegen zurück: Linda Supik vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen referierte über das „Dilemma“, statistische Kategorien für Rasse oder „Ethnizität“ zu führen, mit dem Risiko, daß dies „der Rassifizierung der Wissenschaft“ Vorschub leiste. Ohne diese Präzisierung fehlten jedoch wichtige Daten. Sie kam schließlich zu dem Schluß, daß dieses Dilemma eben bestehen bliebe. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Zuhörer von den unterschiedlichen Erhebungspraktiken in Europa: In Frankreich ist eine Kategorisierung nach ethnischen Kriterien nicht vorgesehen, in Großbritannien hingegen schon. 

Der niederländische Soziologe und Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Ruud Koopmans, versuchte sich in einem Argument gegen die auch in seinem Heimatland übliche Unterscheidung nach Ethnie am Beispiel eines Türken: „Ist der jetzt weiß oder kaukasisch, oder – wenn er etwas dunkler ist – schwarz?“ Ein stichhaltiges Argument gegen die Kategorisierung gelang jedoch keinem Diskussionsteilnehmer. 

Sarrazins Fragen blieben unbeantwortet

Eine der allgemeinen Schwächen der Tagung bestand in dem ständigen Wechsel zwischen ethischen („Welche Daten dürfen wir erheben?“) und methodischen Fragen („Werden die Themen und Probleme der Einwanderungsgesellschaft angemessen erfaßt?“). Außerdem mangelte es an Ergebnissen: Der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) wurde zwar mehrfach erwähnt – meistens mit ablehnendem Unterton. Dessen Fragen ließen die Sozialwissenschaftler bei dem langen Kreisen um sich selbst und ihre vermeintlichen Forschungsprobleme jedoch unbeantwortet: Wie stark ist die Einwanderung? Wie wirkt sie sich wirtschaftlich und sozial aus? Welche Probleme kommen auf uns zu? Welche Lösungen haben wir dafür? Welche gesellschaftlichen Ziele sollen damit erreicht werden? 

Solche Fragestellungen wären zu erwarten gewesen bei dem Veranstaltungstitel „Vermessung der Einwanderungsgesellschaft“, eine Anspielung auf den erfolgreichen Roman von Daniel Kehlmann mit Universitäts-Namensgeber Alexander von Humboldt als einem der Protagonisten. Aber dies hätte ein intensives Faktenreferat erfordert, das sich die Wissenschaftler offensichtlich nicht zumuten wollten. Stattdessen beklagte Foroutan sich über mangelnde öffentliche Wahrnehmung. „Wir haben die Daten, aber nicht die Mittel, sie in die Bevölkerung zu transportieren, um die subkutanen Ängste abzubauen“, stellte sie nüchtern fest. Das Ziel des Datentransportes erfuhr man von BIM-Direktor Wolfgang Kaschuba. „Wir brauchen Bilder, die anstelle einer homogenen deutschen Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft stellen“, sagte der Angehörige einer Vertriebenenfamilie.