© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Niemand hält das Zündholz an die Lunte
Parteitag: Nicht erst der Austritt von Steffen Heitmann zeigt, wie sehr es in der CDU brodelt – dennoch bleibt die Explosion vorerst aus
Paul Rosen

Alles funktioniert scheinbar wie immer. Wer auch nur einen Hauch von Kritik übt in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages, wird niedergebrüllt und geächtet. Das mußte der niedersächsische CDU-Abgeordnete Andreas Mattfeldt erleben, als er in der Haushaltsdebatte zur Flüchtlingswelle sagte, er habe „den Eindruck, daß wir als Staatsgewalt die Kontrolle in der Flüchtlingskrise verloren haben“. Mattfeldt sagte weiter, die Zurückweisung von Flüchtlingen dürfe kein Tabu mehr sein.

Damit hatte der Niedersachse ein Tabu gebrochen, nämlich die „Obergrenze“ der Ausländerzuwanderung angesprochen – ein Begriff, den Kanzlerin Angela Merkel nicht hören will und den sie auch auf dem am Wochenende in Karlsruhe beginnenden CDU-Parteitag scheut wie der Teufel das Weihwasser. Fraktionschef Volker Kauder konnte die Fraktion disziplinieren. Er brüllte Mattfeldt an: „Du solltest dich was schämen.“ Der verbalen Attacke werden andere Maßnahmen folgen: schlechtere Büros, Probleme bei der Einstellung von Mitarbeitern und bei Reiseanträgen und nicht zuletzt der Verlust der Mitgliedschaft im wichtigen Haushaltsausschuß. Mattfeldts Kollege, der Rettungsschirm-Kritiker Klaus-Peter Willsch, hat ein Buch über seine diesbezüglichen Erlebnisse geschrieben (JF 40/15). 

Was mit 311 Fraktionsmitgliedern klappt, klappt das auch mit rund 1.000 Parteitagsdelegierten? Es wird geschätzt, daß 60 Prozent der Parteitagsteilnehmer grundsätzlich auf Merkels Seite stehen, egal, was die CDU-Chefin aktuell von sich gibt. 40 Prozent lehnen den freien Zuzug von Ausländern nach Deutschland angeblich ab und haben Sympathie für einen Antrag der Jungen Union, indem eine Obergrenze für die Einreise gefordert wird. Über diesen Antrag, so die Regieanweisung aus dem Adenauer-Haus, darf auf keinen Fall abgestimmt werden, denn ein knappes Ergebnis könnte leicht als Mißtrauensvotum gegen Merkel interpretiert werden. Und bei Annahme des Antrags von JU-Chef Paul Ziemiak, der durch erfrischende Positionen im öden CDU-Betrieb auffällt, könnte Merkel gleich zurücktreten. 

Also wird CDU-Generalsekretär Peter Tauber von ihm ergebenen Kräften die Treffen der Landesverbände am Sonntag abend genau beobachten lassen. Neigt sich die Waage bei diesen Treffen in Richtung Obergrenze, hat Tauber einen Trumpf in der Hand: Es wird, obwohl alle Antragseinreichungsfristen längst abgelaufen sind, eine Art Initiativantrag der CDU-Führung geben, der erst direkt vor den am Montag beginnenden Beratungen an die Delegierten verteilt werden soll. Je nach Stimmung in den Landestreffen wird die Rede von freier Einreise oder von Verringerung des Einreisetempos (so Merkel in der Haushaltsdebatte) oder von mäßiger bis strikter Kontingentierung in Europa sein. Nur das Wort „Obergrenze“ soll auf keinen Fall in dem Antrag vorkommen. Wenn die gummiartige Vorlage beschlossen werden sollte, wofür fast alles spricht, werden Kontrapunkte wie der Junge-Union-Antrag zur weiteren Beratung an die Bundestagsfraktion überwiesen und tauchen damit im Ozean des Vergessens unter.

Mit diesen taktischen Winkelzügen hofft die Parteiführung, das Treffen in Karlsruhe überstehen zu können. Von irgendeiner Art Aufbruchsstimmung ist bei der CDU nichts mehr zu spüren. Die Mitgliedschaft altert, Nachwuchs gibt es kaum noch, in den Umfragen geht es bergab. Die Partei verliert die Bodenhaftung, was in den noch nicht völlig von bezahlten Funktionären durchsetzten Regionalkonferenzen im Ost deutlich wurde. Dort brach die massive Unzufriedenheit durch, die im Westen von Funktionärskadern bisher unter der Decke gehalten wird. Die Situation erinnert an ein Pulverfaß, aber niemand hält das Zündholz an die Lunte. Willsch oder Mattfeldt sind keine revolutionären Führer, die Führungsebene wie Kanzleramtschef Peter Altmaier oder Innenminister Thomas de Maizière lebt in einer Parallelwelt und beharkt sich gegenseitig. Jeder Wille zur Veränderung fehlt. 

Die Nation ist der Partei fremd geworden

Wie die Lemminge ziehen die CDU-Kader ihrer Vorsitzenden hinterher und ignorieren, wenn einer mit guten Gründen die Richtung ändert. So trat Steffen Heitmann, früher sächsischer Justizminister und kurzzeitig Präsidentschaftskandidat der Union, aus der CDU aus, weil die Flüchtlingspolitik Schaden für das deutsche Volk bedeute und seine weitere Mitgliedschaft in der CDU als „Tolerierung oder sogar Billigung ihrer ‘Flüchtlingspolitik’ verstanden werden könnte“. Bitterkeit durchzieht Heitmanns Austrittsschreiben: „Ich habe mich noch nie – nicht einmal in der DDR – so fremd in meinem Land gefühlt.“ Mit seiner Wahrnehmung steht Heitmann nicht allein, sondern hat ein weit verbreitetes Gefühl unter den Deutschen auf den Punkt gebracht. 

Was da in Karlsruhe tagt, ist nicht mehr die CDU von Adenauer, Erhard, Kiesinger, Barzel und Kohl, sondern ein kalt agierender Machtapparat, der Privilegien verteilt und sichert. Die Herzen der Menschen erreichen die CDU und Merkel nicht mehr, Deutschland als Nation ist ihnen fremd. Merkel mag Karlsruhe überstehen, aber vom Tag danach an wird ihre Amtszeit rückwärts gezählt werden.