© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

An der Grenze der Belastbarkeit
Bundeswehr: Angesichts der wachsenden Zahl von Einsätzen eröffnet Verteidigungsministerin von der Leyen die Diskussion um eine Erhöhung der Truppenstärke
Marcus Schmidt

Als Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vor zwei Jahren ihr Amt antrat, sah es so aus, als stünde die Bundeswehr vor einer Verschnaufpause. Der Rückzug aus Afghanistan lief und ein Ende des kräfteaufreibenden Einsatzes am Hindukusch war absehbar. Gleichzeitig lief die 2011 von Thomas de Maizière (CDU) angestoßene abermalige Bundeswehrreform relativ lautlos. 

Von der Leyen hatte also Zeit und Muße, andere Schwerpunkte zu setzen. Als eine ihrer ersten Maßnahmen startete sie eine Attraktivitätsoffensive für den Dienst in der Bundeswehr. Was folgte, war ein PR-Desaster. Denn in der Öffentlichkeit blieb von dem Konzept vor allem hängen, daß sich die Soldaten ihre Zeit auf den Stuben künftig mit Flachbildfernsehern vertreiben können.

Doch das ist mittlerweile vergessen. Denn seitdem hat sich die Lage völlig verändert. „Ich hätte mir vor zwei Jahren niemals vorstellen können, in was für Abgründe man blickt“, sagte von der Leyen in der vergangenen Woche mit Blick auf den IS. Gemeinsam mit Generalinspekteur Volker Wieker stellte die Ministerin vor der Bundespressekonferenz die Pläne für den Syrieneinsatz der Bundeswehr vor.  Bis zu 1.200 deutsche Soldaten werden sich an dieser Mission, der der Bundestag am vergangenen Freitag zustimmte, beteiligen. Sie werden für die Luftbetankung (etwa 150 Soldaten), die Aufklärung (400 bis 500 Soldaten), bei der Marine (etwa 300 Soldaten) sowie als Stabspersonal zur Unterstützung (etwa 50 Soldaten) eingesetzt.

„Weg vom Obergrenzen-Dogmatismus“ 

Die Syrien-Mission ist damit der größte, aber bei weitem nicht der einzige Einsatz im Ausland. Auch in Afghanistan, dem Kosovo und in Mali sind weiterhin beziehungsweise werden demnächst jeweils Hunderte Soldaten stationiert. Aber nicht allein diese permanenten Auslandseinsätze belasten die Bundeswehr. 

Als Konsequenz aus der Ukraine-Krise hatte die Nato im vergangenen Jahr eine neue schnelle Eingreiftruppe als „Speerspitze“ gegen eine mögliche russische Aggression aufgestellt. Die 5.000 Mann starke Truppe soll innerhalb von zwei bis drei Tagen einsatzbereit sein. Deutschland beteiligt sich mit dem Panzergrenadierbataillon 371 aus dem sächsischen Marienberg an der Truppe. Dies hatte zur Folge, daß die notwendige Ausstattung für den Verband in der ganzen Bundeswehr zusammengesucht werden mußte. Und auch für die Soldaten der Einheit bedeuten die erhöhte Einsatzbereitschaft sowie die teilweise wochenlangen Manöver in den östlichen Nato-Staaten eine zusätzliche Belastung.

Hinzu kommt im Inland die Unterstützung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Nach Angaben der Bundeswehr sind aktuell durchschnittlich 7.500 Soldaten in der Flüchtlingshilfe gebunden. Darunter 375 Soldaten, die im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingesetzt werden.

Von der Leyen ließ durchblicken, daß sich die Bundeswehr damit ihrer Belastungsgrenze nähert. „Mir ist klar: Wenn die Herausforderungen in Zukunft so bleiben, müssen wir beim Personalkörper nachsteuern“, sagte sie. Mit anderen Worten: Es fehlt an Soldaten. Damit brachte erstmals seit Ende des Kalten Krieges ein Verteidigungsminister eine Erhöhung der Truppenstärke ins Gespräch. 

Unterstützung erhielt von der Leyen vom verteidigungspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Henning Otte (CDU). „Angesichts der stetig steigenden Aufgaben für die Bundeswehr ist eine Anhebung des Personalumfangs unumgänglich. Wir müssen einer permanenten Überdehnung unserer Streitkräfte vorbeugen“, sagte Otte. Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, nannte konkrete Zahlen. Er forderte „mindestens 5.000 bis 10.000 Soldaten mehr“. Bei der Reform 2011 habe niemand die Krise in der Ukraine vor Augen oder den Kampf gegen den IS im Blick gehabt, sagte er der Passauer Neuen Presse. Ähnlich äußerte sich der frühere Generalinspekteur Harald Kujat. „190.000 Soldaten sind das Minimum, 200.000 das Optimum“, sagte er der Rheinischen Post. Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), sprach sich in dem Blatt hingegen dafür aus, flexibel auf die Mehrbelastung zu reagieren. „Wir müssen weg vom Obergrenzen-Dogmatismus“, sagte er. Bartels empfahl stattdessen eine „temporäre Verstärkung für einzelne Aufgaben“. So könnten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise auch vorübergehend pensionierte Soldaten aus dem Ruhestand geholt werden.

Wie angespannt die Lage in der Truppe mittlerweile ist, zeigt das Protokoll einer Kommandeurstagung im April, aus dem die Welt in der vergangenen Woche zitierte. „Wir können nicht so ausbilden und üben, wie wir wollen, aber auch nicht so, wie wir beauftragt sind. Ursächlich sind in erster Linie ungenügende Ressourcen“, lautete darin eine Klage eines Offiziers. Ein anderer beklagte den „Verlust der Fähigkeit zur Ausbildung“. Als Störfaktoren auf dem Weg zur Einsatzbereitschaft eines Truppenteils wurden unter anderem „Elternzeit, Teilzeit, Verfügbarkeit von Ausbildungsmaterial, Munition“ genannt.