© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Die Russen legen eine härtere Gangart ein
Besuch auf der Krim: Zwischen Russen, Ukrainern und Tataren läuft nicht alles rosig – doch offene Spannungen sind nicht zu spüren
Thomas Fasbender

Jalta hat bessere Zeiten gesehen. Nicht die unter der ukrainischen Herrschaft, die waren kümmerlich. Und nicht unter den Bolschewiken, da wurde die alte Zeit untergepflügt und wurden riesige Sanatorien an die unberührten Strandabschnitte geklotzt.

Jalta hat auch bessere Zeiten verdient. Das meint jedenfalls Daria, die junge Unternehmerin, die in der Stadt aufgewachsen ist und die halbe Zeit in Deutschland lebt. Der Südhang des Krimgebirges habe den ukrainischen Provinzlern lange als Refugium gedient. Wochenlang hätten sie im subtropischen Primorskij-Park hinter dem Jaltaer Strandhotel Levant im Auto übernachtet. 

Dabei gäbe es genug schöne Plätze für die billige Klientel, im Westen und im Osten die weiten Strände hinter Jewpatorija, mit seiner imposanten Dschuma-Dschami-Moschee, oder in Feodosija. Der bergige Süden, dessen Felsen steil aus dem Meer emporsteigen, der mittelmeerische Buchten formt und den Lack aristokratischer Vergangenheit trägt, der sei einer wirklichen Hauptstadt würdig: Moskau. So wie Nizza und Cannes für Paris.

Die Bausubstanz für eine Zukunft mit Glamour und hohen Preisen ist vorhanden, wenn auch noch unter grauem Putz und verwittert. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten 30.000 Menschen in der Stadt. Es gab zwei Zarenschlösser in unmittelbarer Umgebung, dazu dicht gedrängt die Villen des Adels und der Kaufleute, das Hotel de France, das St. Petersburg, das Mariino. 

Ukrainische Spuren sind hier Mangelware

1920 standen die Roten vor der Stadt, die Reste der Weißen Armee schifften sich unter dem Schutz der Westmächte ein, dann bauten die Bolschewiken ihre Sanatorien. Die Ruinen einer glanzvolleren Zeit verschwanden unter Zypressengestrüpp.

Annähernd 23 Jahre ukrainische Verwaltung haben kaum Spuren hinterlassen. Immerhin strahlt die vierstöckige Villa Jelena in freundlichem Altrosa, vor der Revolution für kurze Zeit das beste Haus am Platz und seit 2007 renoviert. Das 5-Sterne-Penthouse mit 250 Quadratmetern bietet atemberaubenden Meerblick, und der Oligarchen-Branntwein Rémy Martin Louis XIII. kommt mit 210 Euro je fünf Centiliter günstiger als in manchem Moskauer Club.

Mit der neuen Zugehörigkeit zu Rußland – von 1783 bis 1991 uneingeschränkte Herrscherin der Taurischen Halbinsel – wird die Krim wieder zum maritimen Vorposten an der Grenze zur islamischen Welt. Taurische Halbinsel ist ein Name, den sie den Griechen verdankt. Ab dem siebten Jahrhundert siedelten die seefahrenden Migranten an ihrer fruchtbaren Küste. 

Die Halbinsel ist ein Land ohne autochthone Bevölkerung. Immer waren alle auf der Durchreise: vor den Griechen die Skythen, dann Römer, Goten, Sarmaten, Byzantiner, Hunnen, Chasaren, Kyptschaken, Mongolen, Venezianer, Genueser und Türken, schließlich die Russen. Die kamen 1783 mit einer deutschen Prinzessin an der Spitze: Katharina II. Zuvor hatten rund 350 Jahre lang die Krimtataren regiert, ein Überbleibsel der Mongolenherrschaft bis zum 15. Jahrhundert. 

Von der Hauptstadt Bachtschyssaraj zwischen Simferopol und Sewastopol aus terrorisierten sie die Bevölkerung nördlich des Schwarzen Meers. Jahrhundertelang versorgte das Krim-Khanat die Märkte in Istanbul, Damaskus und Bagdad mit blonden Slawen beiderlei Geschlechts – weshalb wir heute noch von Sklaven sprechen.

Inzwischen ist Bachtschyssaraj ein friedliches Städtchen mit einem türkisfarbenen Bahnhof. Anmutig atmet es die Atmosphäre ewiger russischer Provinz. Ich bin hergekommen, um einem Gerücht nachzugehen: Rußland soll die Krimtataren unterdrücken. 

Der Taxifahrer, der mich vom Bahnhof zum Hotel fährt, erklärt, er sei Ukrainer und das zu hundert Prozent. Doch er lebe freiwillig hier; mit den Russen gebe es keine Probleme. Die Tataren, das sei schon was anderes. Ob ich wüßte, daß sie früher alle Slawen, derer sie habhaft wurden, nach Arabien verkauft hätten. Ich frage ihn, ob es stimmt, daß es den Tataren vor 2014 besser gegangen sei. Naja, sagt er, wie man es nimmt. Jedenfalls hätten die Ukrainer ihnen nicht so auf die Finger geschaut. Die Ukrainer hätten niemandem auf die Finger geschaut. Im Vorbeifahren zeigt er auf ein geschlossenes Straßenrestaurant, dann auf ein zweites, ein drittes. Keine Papiere, keine Lizenzen, keine Steuern, nichts, sagt er. Den Kiewern sei das egal gewesen; das hätte einigen natürlich in den Kram gepaßt. Die Russen bevorzugten eine härtere Gangart. Schluß mit lustig.

Krimtataren und Russen eint eine schwere Vergangenheit: die Annexion 1783, der Krimkrieg 1853/56, der Russisch-Türkische Krieg 1877/78, die russische Nationalitätenpolitik. In den Jahrzehnten vor der Revolution gingen viele Krimtataren in die Türkei. Nach der Oktoberrevolution 1917 dann Verfolgung, Hunger, Kollektivierung und Tod. Kein Wunder, daß nicht wenige die Achsenmächte 1941 als Befreier empfingen und den neuen Herren im Tataren-Gebirgsjäger-Regiment der Waffen-SS dienten.

Stalins Rache war grausam. An nur drei Tagen im Mai 1944 ließ er alle 240.000 Krimtataren mit Viehwaggons nach Zentralasien schaffen. Binnen weniger Monate lebte nur noch die Hälfte von ihnen. Zurückkehren durften sie erst Ende der 1980er.

Den politischen Willen der Heimkehrer bündelte damals ein sowjetischer Dissident: Mustafa Dschemilow. In der westlichen Öffentlichkeit prägt er heute noch das Bild seiner Volksgruppe. Der 1943 geborene Politiker ist ein Profi. Von 1991 bis 2013 stand er dem Medschlis vor, der von ihm ins Leben gerufenen krimtatarischen Exekutivvertretung. Seit 1998 ist er Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Daß er sich nach dem Kiewer Umsturz 2014 auf die Seite der neuen Regierung schlagen würde, war absehbar (JF 28/14). In Rußland und auf der Krim gilt für ihn ein Einreiseverbot.

Alltag der Krimtataren ist erstaunlich unpolitisch 

Seit September 2015 unterstützt der pro-ukrainische Teil des Medschlis den Boykott von Lebensmitteln und Strom, die aus der Ukraine auf die Krim geliefert werden sollen. Im Verein mit ukrainischen Nationalisten sprengten Dschemilows Aktivisten vier Überlandleitungen. Dschemilow macht sich stark dafür, nur einen der vier Masten zu reparieren: Rußland soll die Krim wieder hergeben. 

Der Khan-Palast ist ein angenehm bescheidener, von Mauern umgebener Komplex mit Museen und einem Marmorbrunnen, den Puschkin besungen hat. Katharina die Große war im Frühjahr 1787 hier. Jetzt gibt es kaum Touristen, ohnehin war die Saison schlecht. Vor einem der leeren Cafés sitzt ein Alter ohne Vorderzähne auf einer Pritsche. Er spricht Fremde an und wirbt für sein Etablissement. Er erzählt mir auch vom Medschlis und von Dschemilow: „Der macht jetzt in der Ukraine sein Geld.“

Ich bin der einzige Gast. Ein schwarzhaariges Mädchen mit gesenktem Blick bedient. Türkischer Kaffee und süße Leckerbissen zum zweiten Frühstück. Kurz vor Mittag erscheint eine Hochzeitsgesellschaft im Hof des Palasts. Braut und Bräutigam schlank in tatarisch-türkischer Tracht, er mit dem schwarzen Fez, sie mit einem verschleierten Gegenstück ganz in Weiß, eine schwarzhaarige Schönheit mit weißer Haut. Am Straßenrand parkt eine S-Klasse mit zwei krimtatarischen Flaggen, einem gelben Dreizack, dem Symbol der Goldenen Horde, auf türkisfarbenem Grund. 

Die Hochzeitsgesellschaft: gut gekleidete junge Menschen, die weder Russen noch Ukrainern ähneln. Ob ich ein Wort Krimtatarisch höre? Fehlanzeige, bei dieser Hochzeit ebenso wie in ganz Bachtschyssaraj. 

Auch das Mädchen mit dem gesenkten Blick spricht russisch, nicht nur mit mir, sondern auch in der Küche. Ich frage, ob sie Krimtatarisch beherrscht. Natürlich, sagt sie. In der Schule habe sie es gelernt und zu Hause. Nur im Alltag benutze es niemand. Warum nicht, ist es verboten oder geniert man sich? Ein verständnisloser Blick – wie ich auf die Idee käme. Nun, ich hätte gelesen, tatarische Schulen würden geschlossen. Nein, sagt das Mädchen und schüttelt den Kopf. Nur in der Schule Nummer 5, dort sei früher nur auf tatarisch unterrichtet worden und heute zweisprachig auf tatarisch und russisch. Aber sie sprächen ja sowieso alle russisch.

Die gleichen Antworten auf die gleichen Fragen höre ich überall, wo ich einkehre, auch in dem freundlichen Familienhotel in der Altstadt, das für zwei Nächte gerade einmal 28 Euro kostet. Parteinahme für Mustafa Dschemilow und seinen Medschlis hat Seltenheitswert. In der Tat scheinen sich Unterdrückung und Verfolgung auf die Pro-Kiewer Aktivisten in Dschemilows Umfeld zu beschränken; den Alltag der Krimtataren betreffen sie nicht.

Das deckt sich mit Aussagen aus der Umgebung des Republikchefs Sergej Aksjonow: Mindestens 70 Prozent der Krimtataren seien inzwischen für die neuen Verhältnisse. Aksjonow wirft Kiew und dem Medschlis vor, die Krimtataren bewußt gegen die Mehrheitsbevölkerung aufgewiegelt zu haben: „Das Teilen der Krimbewohner nach Nationalitäten muß ein Ende haben. Was für die Krim getan wird, wird für alle getan.“ Das hindert ihn nicht, hart gegen die Kiewer-Tatarenfraktion vorzugehen: Dem TV-Sender ATR, der dem Medschlis nahesteht, wurde im April die Lizenz entzogen. 

Die 1944 von der Halbinsel verschleppten Armenier, Bulgaren, Griechen, Tataren und Deutschen hatte Präsident Wladimir Putin bereits vier Wochen nach dem Anschluß rehabilitiert. Seit 2015 gibt es einen neuen Feiertag: die Rückkehr der verbannten Völker auf die Krim.