© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

„Eine Form von Terrorismus“
Eine spektakuläre Studie gewährt einen neuen Blick auf das US-Lynchwesen gegen Schwarze. Dessen wahres Ausmaß und unfaßbare Bestialität wurden bisher offenbar unterschätzt
Moritz Schwarz

Herr Professor Stevenson, wer die Studie Ihrer Initiative liest, stellt mit Erstaunen fest, daß etliche der darin geschilderten Fälle sogar das übertreffen, was wir an Greueltaten vom Islamischen Staat gewohnt sind.  

Stevenson: Präsident Obama hat angesichts des IS-Terrors daran erinnert, daß auch unsere Geschichte grausame Verbrechen birgt. Und vielleicht hat das dazu beigetragen, daß das Medienecho auf unseren Bericht so enorm war. Ja, ich glaube in der Tat, daß man den IS-Terror im Grunde nicht von dem unterscheiden kann, was schwarze Amerikaner noch im 20. Jahrhundert ertragen mußten.  

Was ist denn neu an Ihrer Studie „Lynchen in Amerika“?

Stevenson: Sie gibt den bisher wohl klarsten Blick auf das rassistische Lynchen in den USA. Den meisten Amerikanern dürften weder Ausmaß noch die wahren Umstände bekannt sein.

Konkret?

Stevenson: Wir haben in den von uns untersuchten US-Bundesstaaten für den Zeitraum von 1877 bis 1950 etwa 800 bisher unbekannte Fälle von Lynchjustiz entdeckt. Insgesamt waren es 3.959.

Warum haben Sie nur zwölf von fünfzig US-Bundesstaaten untersucht?

Stevenson: Weil wir für mehr nicht die Mittel hatten. Jeder Fall wurde genau recherchiert. Wir haben uns auf die Staaten mit den meisten Vorfällen konzentriert.

Gab es weitere Fälle in anderen Staaten?

Stevenson: Keine Frage, Hunderte! 

Wie hoch schätzen Sie die Zahl insgesamt?

Stevenson: Auf etwa über 6.000 für die USA. Wobei die neuen Zahlen nicht das sind, was unsere Studie ausmacht. 

Sondern?

Stevenson: Das eigentlich Neue, das unser Report zeigt, ist, daß es sich um eine Form des Terrorismus gehandelt hat.

Inwiefern?

Stevenson: Viele dieser Lynchmorde wurden nicht an Menschen begangen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben – mindestens einem Drittel wurde nicht einmal eines vorgeworfen. Ihre Ermordung erfolgte vielmehr, um das rassistische Narrativ von der „weißen Überlegenheit“ – der „White Supremacy“ – als soziale Norm durchzusetzen.

Zum Beispiel?

Stevenson: Zum Beispiel gegenüber Schwarzen, die nicht genug „Respekt“ zeigten. Etwa indem sie es wagten, eine weiße Frau zu einem kalten Getränk einzuladen, oder auch nur an die Türe des Hauses einer weißen Frau zu klopfen. Aber selbst unabsichtliche Zufälle, wie versehentlich mit einer weißen Frau auf der Straße zusammenzustoßen oder auch nur einen Raum zu betreten, in dem sich gerade weiße Frauen aufhielten, konnten ausreichen, um auf der Stelle von einem Mob ermordet zu werden. Ebenso einen weißen Polizisten nicht mit „Mister“ anzusprechen oder sich in Armeeuniform außerhalb des Dienstes in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.  

Zwei Drittel allerdings haben kriminelle Delikte begangen?

Stevenson: Nein, zwei Drittel wurden zwar beschuldigt, viele davon waren aber, etliche sogar nachweislich, unschuldig. Doch gab es kein Gerichtsverfahren, um die Vorwürfe zu prüfen, oder nur Tribunale, bei denen das Todesurteil schon von Beginn feststand. Natürlich gab es auch Opfer, die tatsächlich krimineller Delikte schuldig waren. Allerdings hätten sie vor Gericht gestellt und gemäß der Gesetze bestraft werden müssen. Doch auch sie wurden ohne fairen Prozeß zu Tode gefoltert. Es ging auch hier nicht um eine irregeleitete Rechtspflege, sondern darum zu demonstieren, daß die Normen der „White Supremacy“ in der Gesellschaft Gültigkeit hatten. Es ging also gar nicht um die Bestrafung der Opfer, sondern um die schwarze Bevölkerung an sich – sie war der Adressat. Das ist das Prinzip des Terrorismus: politische und soziale Vorstellungen durchzusetzen, indem man mit Mord und Folter Angst und Schrecken verbreitet. 

Unter dem Einfluß von Hollywood-Western stellt man sich Lynchen als Aufhängen am nächsten Baum vor. So war es nicht?

Stevenson: Lynchen wird in den USA gerne als eine Art behelfsmäßiger Rechtspflege im Wilden Westen verstanden, wo es noch kein funktionierendes bürgerliches Rechtssystem gab und das jeden treffen konnte, egal welcher Hautfarbe. Das ist aber nicht das Lynchen, das wir dokumentieren. Unsere Fälle fanden unter geordneten bürgerlichen Verhältnisse mit einem an sich funktionierenden Rechtssystem statt. Und sie richteten sich allein gegen Schwarze, und dies nicht um Recht und Gesetz, sondern um das Narrativ der Rassenunterschiede in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

Kaum zu fassen sind die Details einiger Fälle, die Ihr Bericht schildert.

Stevenson: Etliche der Fälle sind unglaublich drastisch. Da wurden etwa die Opfer mit glühenden Schürhaken gequält, schließlich höhlte man ihnen damit die Augen aus und stieß sie ihnen durch den Schlund die Kehle hinunter. Oder man traktierte sie mit heißen Bügeleisen, verstümmelte und kastrierte sie, bevor man sie mitunter lebendig langsam über einem Feuer röstete. Ein schwarzes Paar, dem man 1904 vorwarf, einen weißen Landbesitzer ermordet zu haben, schnitt man erst die Finger und Ohren ab. Dann zertrümmerte man dem Mann den Schädel mit einem solch wuchtigen Schlag, daß ihm ein Augapfel aus der Augenhöhle flog. Sodann traten einige der Peiniger mit großen Korkenziehern an ihre Opfer heran und bohrten diese in die malträtierten Körper und rissen damit beachtliche Stücke „zitternden Fleisches“ aus deren Leibern. Danach warf man diese Menschen, oder was noch von ihnen übrig war, in ein großes Feuer und verbrannte sie. Andere Opfer wurden zerstückelt und ihre Einzelteile zur Abschreckung öffentlich ausgestellt.

Kaum zu fassen ist auch, daß etwa die Hälfte der Morde keineswegs heimlich und an abgelegenen Orten verübt wurden. 

Stevenson: Eben, keineswegs. Laut Augenzeugenberichten wohnten etwa dem eben geschilderten Fall Männer, Frauen und Kinder bei, die Folter und Verstümmelung der Opfer verfolgten, während sie gefüllte Eier, Limonade und Whiskey in einer picknickartigen Atmosphäre genossen. In vielen Fällen waren sogar die Behörden informiert, unternahmen jedoch nichts – im Gegenteil. Lynchmorde fanden sogar auf dem Rasen vor dem lokalen Gericht statt. Manchmal kündigten die lokalen Zeitungen die Ereignisse mit dicken Schlagzeilen wie ein bevorstehendes Volksfest vorher an. Und die Leute kamen nicht nur zu Dutzenden oder Hunderten, sondern in manchen Fällen zu Zigtausenden. Bei einem Fall in Texas 1916, bei dem ein 17jähriger geistig zurückgebliebener schwarzer Junge kastriert, verstümmelt, niedergestochen und geröstet wurde, gab es etwa 15.000 Zuschauer. Etliche Bürger kauften sich am nächsten Tag Ansichtskarten, die Fotografen von den Lynchmorden anfertigten und die man etwa beim örtlichen Drugstore oder von fliegenden Händlern erwerben konnte, und verschickten diese, versehen mit „lieben Grüßen“, an Freunde und Verwandte. Alte Fotoalben von Südstaaten-Familien zeigen Fotos mit gehängten, verbrannten oder zerstückelten Leichen, unter die der Albumsbesitzer zum Beispiel notiert hatte: „Ein schöner Ausflugstag“. Mitunter nahmen sich die Besucher sogar Leichenteile des Opfers, abgeschlagene Knochen, herausgerissene Fleischstücke oder abgehackte Finger, als Souvenier mit nach Hause. 

Wie ist das in einem christlichen und liberalen Land wie den USA zu erklären? 

Stevenson: Die Ideologie der „White Supremacy“ ermöglichte normalen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft, diesen Greueln mit Wohlbehagen beizuwohnen. Sie sahen sich im Recht, und das macht blind gegenüber der Grausamkeit. So funktioniert das, ob beim Lynchen, während der Zeit der Sklaverei oder des Holocausts in Deutschland. 

Trotz aller Indoktrination war es den NS-Machthabern kaum möglich, Juden in der Öffentlichkeit zu töten, ohne Abscheu zu erregen. Ihr Versuch im November 1938 führte keineswegs zu Szenen, wie sie Ihr Bericht beschreibt, sondern im Gegenteil, vielfach zu Ablehnung, so daß die Nationalsozialisten dies enttäuscht aufgaben. Der Holocaust wurde schließlich staatlicherseits geheimgehalten und geschah in Vernichtungslagern außerhalb des Reiches.  

Stevenson: Sie müssen bedenken, daß die Ideologie von der Überlegenheit der Weißen Rasse in den USA eben eine viel längere Tradition hatte. In Deutschland gab es zum Beispiel keine Sklaverei. Diese galt lange als ganz normal. Sie war tief in der Gesellschaft verankert und hat ohne Zweifel dazu begeitragen, daß es später bei vielen Weißen kein Unrechtsbewußtsein gab, wenn Schwarze öffentlich zu Tode gequält wurden.

Lynchen war illegal, warum schritten weder die Regierungen der Bundesstaaten, noch die in Washington ein?

Stevenson: Die der Bundesstaaten trauten sich nicht, weil Lynchen sehr populär war und sie bei einer Intervention in der weißen Bevölkerung in Verdacht geraten wären, mit den Schwarzen zu sympathisieren. Und Washington wiederum wollte keine weiteren Spannungen mit den Südstaaten provozieren. 

Das heißt, Washington war voll im Bilde? 

Stevenson: Kein Zweifel. 

Wie konnte es dann 1914 beanspruchen, als Vertreter der Demokratie gegen eine angebliche kaiserlich-deutsche Despotie zu kämpfen – in der es all das nicht gab?

Stevenson: Dieses Problem haben die USA doch heute noch. Es ist viel einfacher, von anderen Staaten den Schutz von Minderheiten zu verlangen, als solche Mißstände im eigenen Land zu beheben. 

Im Zweiten Weltkrieg machten sich die USA nach populärem Verständis auf, um die Ermordung der Juden zu beenden, während sie bei der Ermordung von Schwarzen im eigenen Land wegschauten? 

Stevenson: Tatsächlich ging es nicht so um die Juden, sondern darum, die Ausbreitung der Nazi-Herrschaft zu verhindern. Ich denke zwar nicht, daß diese Intention in Zweifel zu ziehen ist, aber es steckt eine gewisse Heuchelei dahinter, das stimmt. Unser Bericht soll aber ja gerade dazu beitragen, für solche Doppelmoral zu sensibilisieren. Wir wollen die Art und Weise ändern, mit der die USA mit ihrer Geschichte der Rassenungerechtigkeit umgehen. Denn wir werden mit den Rasseproblemen in unserem Land keinen Fortschritt machen, wenn wir nicht dazulernen. 

Also geht es Ihrer Studie in erster Linie gar nicht um historische Erkenntnis, sondern darum politisch zu beeinflussen?

Stevenson: Es geht uns sowohl darum, zu dokumentieren, was war, wie auch darum, heute Gerechtigkeit herzustellen. 

Inwiefern?

Stevenson: Durch die Erfolge der US-Bürgerrechtsbewegung ist ein Narrativ entstanden, das manchmal den Eindruck  macht, diese sei ein einziges Happening gewesen: bestehend etwa daraus, daß sich Rosa Parks 1955 demonstrativ in einem Bus ins Abteil für Weiße gesetzt hat oder daß Martin Luther King 1963 eine Großdemonstration in Washington D.C. anführte. Und daraufhin gab es – hopplahopp – auch Bürgerrechte für Schwarze. Dieses Narrativ der Erfolge blendet aber die lange und schwere Zeit der Leiden der schwarzen Bevölkerung weitgehend aus und führt dazu, daß wir uns kollektv nicht mehr an den Schmerz, die Demütigung, die Unterdrückung und Gewalt erinnern. All das soll unsere Studie wieder ins Bewußtsein rufen. Wenn ich nach Deutschland komme, bin ich beindruckt, wie gründlich die Deutschen den Holocaust noch heute aufarbeiten. Das haben wir in den USA bezüglich der Sklaverei nie geschafft. 

Provoziert dieser politische Zweck nicht die Frage, ob Ihr Bericht dann als historische Studie wirklich glaubwürdig sein kann?

Stevenson: Ich finde den Anspruch, Gerechtigkeit für alle zu erreichen, nicht politisch. Finden Sie etwa die Holocaustgedenkstätten in Deutschland politisch?

Auf jeden Fall. 

Stevenson: Ich würde nicht sagen, daß etwa das Lincoln- oder das Vietnam-Memorial in Washington politische Mahnmale sind, sondern schlicht Orte, die uns unsere Vergangenheit nahebringen. Und so sehen wir auch unsere Studie.  

Besteht nicht die Gefahr, daß Ihr Report Haß gegen Weiße schürt?

Stevenson: Nein, das ist auch keinesfalls unser Ziel, im Gegenteil, wir hoffen zur Versöhnung beizutragen.  

Gut möglich ist allerdings, daß ihr Bericht bei Weißen Selbsthaß erzeugen könnte.

Stevenson: Ich glaube wirklich nicht, daß wir befürchten müssen, daß die Weißen in Amerika damit beginnen werden, sich moralisch minderwertig zu fühlen.

In Deutschland hat die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Verbrechen durchaus zu Schuldkomplexen, Minderwertigkeitsgefühlen und Selbsthaß geführt. 

Stevenson: In meinen Augen sind die Deutschen durch ihre Beschäftigung mit dem Holocaust nicht moralisch minderwertiger geworden, sondern moralisch gewachsen. Und um ehrlich zu sein, ein gewisses Gefühl von Scham für diese Dinge in Amerika zu entwickeln wäre auch nicht verkehrt. Denn Scham ist ein Gefühl, das Dinge in Bewegung bringt, weil die Leute erst dann etwas ändern. Natürlich ist unser Bericht unangenehm, und das soll er auch sein. 

Also geht es doch um Schuldgefühle.

Stevenson: Weiße Amerikaner, die unseren Bericht lesen, reagieren auf alle Arten. Manche sind nur überrascht, andere wünschten, er wäre nicht wahr und manche schämen sich. Das ist menschlich. 

Wie patriotisch ist es, nationale Schuldgefühle zu erzeugen?

Stevenson: Ich definiere Patriotismus anders, nämlich daß ich wünsche, daß mein Land Fortschritte macht. Die Bürgerrechtsbewegung wurde von Leuten geführt, die in einer Hand eine Bibel, in der anderen die amerikanische Flagge hielten. Manchmal bedeutet patriotisch zu sein, sein Land zu kritisieren. Ich betrachte mich nicht als weniger patriotisch als andere Amerikaner, nur weil ich das immer wieder tue. 






Professor Bryan Stevenson, den „Nelson Mandela Amerikas“ nennt Erzbischof Desmond Tutu den Anwalt und Gründer der US-Bürgerrechtsinitiave „Equal Justice Initiative“, die 2015 die Studie „Lynching in America“ publizierte. Stevenson, geboren 1959, lehrt an der New York University und ist auch Autor des „aufsehenerregenden“ (ARD) und „brillanten“ (DLF) Buches „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“.

Foto: Lynchmord in den USA, 1935: „Männer, Frauen und Kinder verfolgten Verstümmelung und Ermordung der Opfer, während sie gefüllte Eier und Limonade wie bei einem Picknick genossen“

 

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