© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Pankraz,
M. Crépon und die Angst vor der Angst

Das ist wohl absoluter Geschwindigkeitsrekord. Nach noch nicht einmal drei Wochen seit den jüngsten islamischen Mordanschlägen in Paris hat Professor Marc Crépon (53) von der École normale supérieure daselbst ein Buch über das Ereignis auf den Markt geworfen. Es heißt „Kultur der Angst“ und wälzt sich – wie könnte es anders sein – in den zur Zeit gängigen Phrasen. Doch die Sache bleibt trotzdem interessant.

„Die Terrorgewalt“, so lesen wir bei Marc Crépon, „ist in unser Leben eingedrungen und hat unser natürliches Grundvertrauen in unser Transportsystem, in die öffentlichen Räume, die wir durchqueren, in die Menschen, die uns begegnen, zerstört. Die Zerstörung dieses Vertrauens ist die furchtbarste Waffe der Terroristen. Jeder muß nun versuchen, es wiederherzustellen, in sich selbst und in anderen. Und auch das liegt in dem Satz ‘Der Angst nicht nachgeben’, der vielleicht etwas Beschwörendes hat, aber auch etwas Schönes, weil Widerständiges.“

Was Crépon in seinem Text befördert, ist also die Angst vor der Angst. Angsthaben, mahnt er, schärfe doch nur die mörderischen Waffen der Terroristen. Man müsse es so schnell wie möglich durch etwas  „Schönes“, nämlich „Widerständiges“, ersetzen. Das ist ungefähr so kurios, als würde ein Meisterkoch predigen, man müsse bei der Würzung der Gerichte den Pfeffer so schnell wie möglich durch Salz ersetzen. Der gute Geschmack würde dadurch natürlich gründlich verdorben, aber man habe der Fadheit der Speisen doch immerhin einen mächtigen Riegel vorgeschoben.


Als gelernter Lebens- und Existenzphilosoph und guter Heidegger-Kenner müßte Crépon eigentlich wissen, daß die Angst kein Nebenprodukt verächtlicher Feigheit ist, sondern unabtrennbarer Bestandteil jeglichen Menschseins. Alle übrige Kreatur kennt nur die Furcht vor gewissen Situationen, die relativ leicht zu beschwichtigen ist. Man lernt, wo Schmerzen oder sonstige Miserabilitäten drohen und richtet sich darauf ein, meidet die Verursacher, schätzt Risiken ab, bleibt im übrigen gelassen. Todesfurcht kennt man nicht; diese ist dem Menschen vorbehalten – und bei ihm heißt sie Angst.

Søren Kierkegaard unterschied in seinem Buch „Der Begriff der Angst“ von 1844 als erster zwischen der auf einen konkreten Gegenstand bezogenen „Furcht“ und der „ungerichteten“ Angst, der „Todesfurcht“, die nicht momentan droht, sondern als unabwendbares Schicksal über uns allen schwebt und unser Leben in toto strukturiert. Panisches Geschlotter ihr gegenüber ist ebenso von Übel wie allzu gelassenes Vertrauen auf ein ewiges Leben in transzendenten Dimensionen. Vielmehr kommt es darauf an, das Leben als eine „Krankheit zum Tode“ zu begreifen und es darauf hin sinnvoll zu ordnen.

Martin Heidegger hat später den Ball von Kierkegaard aufgenommen und ihn in seinem epochalen Werk „Sein und Zeit“ unter vielerlei Sonnen zum Tanzen gebracht. „Die Angst vor dem Tode“, heißt es darin, „ist die Angst vor dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin.“ Auch die Klassiker Schelling und Hegel  haben übrigens schon in diese Richtung gedacht. Für letzteren war die Angst ein „notwendiges Moment des Übergangs vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein“.

Mit anderen Worten: Die Angst, sofern sie nicht in Panik und blindes Angstgeschlotter umschlägt, verfeinert und komplettiert unser Leben, verleiht ihm gleichsam von Natur aus eine metaphysische Dimension, beflügelt Kunst, Literatur und gediegenen Dialog. Demgegenüber entpuppt sich die von Crépon anvisierte „Angst“, die es zu überwinden und durch „echt Widerständiges“ auszuwechseln gelte, als ein bedauerlicher Zweig des erwähnten Angstgeschlotters, als „Binnenangst“, wie Sigmund Freud das Phänomen einst recht herablassend betitelte.


Freud, der Kierkegaard vielleicht gar nicht kannte, hatte von drei Grundformen der Angst gesprochen, erstens von der Realangst, zweitens von der Moralangst und drittens eben von der Binnenangst. Unter Realangst verstand er, was bis zu ihm hin als „Furcht“ beschrieben worden war, unter Moralangst im Ansatz, was Kierkegaard, Heidegger & Co. als „Krankheit zum Tode“ ins Auge faßten. Die Binnenangst beziehungsweise „neurotische Angst“, wie er auch sagte,  galt ihm gleichsam als Sekundäreffekt. „Sie stellt sich ein, wenn das Ich von übermäßigen Triebansprüchen des Es überwältigt zu werden droht.“

Ist die derzeit als Folge des islamischen Terrors entstandene und von Marc Crépon so sehr beklagte Generalangst nun – nach Freudschem Schema gefragt – eine Realangst, eine Moralangst oder eine Binnenangst? Real sind auf jeden Fall die fürchterlichen öffentlichen Zustände; unser Alltag, unsere U-Bahnen, Straßen und Kneipen, nichts ist mehr sicher, jeden Augenblick kann ein als harmloser Bürger verkleideter Attentäter auf uns zustürzen. Aber todeshaltig und moralgesäuert sind die Anschläge auch, es geht immer um Tod oder Leben, und gemordet wird immer im Namen eines Gottes.

Trotzdem müßte man wohl, was den seelischen Effekt bei den potentiellen Opfern betrifft, von Binnenangst sprechen. Es handelt sich ganz überwiegend um simple Triebansprüche, die sich schnell wieder beruhigen, so daß der gewohnte Alltagstrott weitergehen kann, ohne daß eine moralische oder gar metaphysische Dauerkomponente hinzuträte. So wirkt es geradezu komisch, wenn da jemand kommt und den Leuten rät, sie sollten sämtliche Ängste in die Ecke stellen und unbedingt so weiterleben, als wäre nichts geschehen. 

Daß nichts geschieht, liegt gewiß nicht im Wesen der Schöpfung, sonst wäre sie gar keine. Und die Menschen sollten das Ihre dazutun, damit das Richtige geschieht. Orientierungshilfe dabei leistet indes, wie Heidegger und Freud wußten, mit Sicherheit die sorgfältig wachgehaltene moralische Angst.