© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Wenn die „Mutter“ zur „Muta“ wird
„Lesen durch Schreiben“: Eltern von Grundschülern sollten mit ihren Kindern üben und sie korrigieren
Bernd Rademacher

Libe Lesa der jungen vreieit – Sie glauben, das sei orthographisch falsch? Nicht in deutschen Grundschulen. Zunehmend beklagen Eltern, weiterführende Schulen und Arbeitgeber die erschreckend mangelhafte Rechtschreibkompetenz der Heranwachsenden. Eine Wurzel dieses Übels ist die Unterrichtsmethode „Lesen durch Schreiben“ des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen (1939–2009), die nach dem Motto verfährt „Schreib’, wie du sprichst“ und sich in Deutschland nahezu flächendeckend durchgesetzt hat. 

Kernstück der Methode ist die sogenannte „Anlauttabelle“. Damit wird jedes Wort in Laute unterteilt und diesen ein Buchstabe zugeordnet. Damit sollen die Kinder „schnell drauflos schreiben“ und dadurch Erfolgserlebnisse haben. Dabei wird „Mutter“ allerdings zu „Muta“. Bestandteil der Reichen-Methode ist, daß weder Eltern noch Lehrer korrigierend eingreifen dürfen, um die „Kreativität“ der Kinder nicht zu bremsen. Reichen war davon überzeugt, daß Kinder um so mehr lernen, „je weniger sie belehrt werden“.

Das Erfolgserlebnis verwandelt sich jedoch in Frustration, wenn ab der dritten Klasse plötzlich Rechtschreibregeln gelten. Was gestern noch als „richtig“ durchging („Fogl“ statt Vogel), ist dann falsch, und es wimmelt in den Schülertexten vor roten Fehlermarkierungen.

Skeptischen Eltern versichern die Lehrer stets, daß sich die korrekte Rechtschreibung spätestens bis zum Ende der vierten Klasse durchgesetzt habe. Eltern, die sich darauf verlassen, können dann beim Schulwechsel eine böse Überraschung erleben, vor allem, wenn das Kind ein Gymnasium besuchen soll. Entweder reicht die Deutschnote für eine Gymnasialempfehlung nicht aus, oder die Schüler scheitern krachend an den am Gymnasium als selbstverständlich vorausgesetzten Rechtschreibkenntnissen.

Warum werden Kinder mit großen Rechtschreiblücken überhaupt für gymnasialreif erklärt? Ein Grundschullehrer erklärt gegenüber JUNGEN FREIHEIT, wie manche zweifelhaften Gymnasialempfehlungen zustande kommen: Er sagt, die Kollegen hätten schlicht keine Lust, sich mit ehrgeizigen Eltern anzulegen. Erst recht nicht, wenn diese Akademiker oder Juristen seien, die schnell mit Klage drohten, wenn Linus oder Amelie zu Realschülern „degradiert“ werden sollten.

In den Eingangsklassen der weiterführenden Schulen müssen oft noch bis zur siebten Klasse Rechtschreibübungen angesetzt werden, die längst abgehakt sein sollten. Diese Unterrichtszeit fehlt dann für eigentlich relevante Inhalte.

Die Reichen-Methode „Schreiben nach Gehör“ – ein Relikt aus den Reformexperimenten der 1970er Jahre – hat sich trotz aller Umstrittenheit ausgebreitet – obwohl beispielsweise die sogenannte Marburger Studie „Lesen durch Schreiben“, die die Auswirkungen verschiedener Unterrichtsmethoden auf den Schriftspracherwerb bei Grundschülern untersuchte, bereits vor zehn Jahren negative Auswirkungen der Methode belegte. Mit ihr steige die Zahl rechtschreibschwacher Kinder. Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Renate Valtin, erklärte 2013 im Spiegel ohne Umschweife: „‘Lesen durch Schreiben’ muß verboten werden.“ 

Dennoch wird die Reichen-Methode inzwischen in allen Bundesländern angewendet, allerdings noch nicht an allen Schulen. Eltern sollten sich bei der Einschulung danach erkundigen. Manche Pädagogen begleiten die Anwendung auch mit zusätzlichen Rechtschreib-Arbeitsblättern.

Auf jeden Fall ist Eltern zu empfehlen, ihre Kinder unbedingt gegen den Rat des Lehrers zu korrigieren und mit ihnen zu Hause in Eigenregie richtiges Schreiben zu üben! Selbst um den Preis, daß sich der Lehrer den Lernerfolg hinterher selbst auf die Fahne „seiner“ Methode schreibt.