© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Neil Harbisson. Der Ire ist der weltweit erste anerkannte kybernetische Organismus
Der Cyborg
Wolfgang Kaufmann

Achromatopsie ist eine extreme Form der Farbenblindheit, bei der der Betroffene nur einzelne Grautöne wahrnehmen kann. Das hinderte den Nordiren Neil Harbisson, der 1982 mit dieser Sinnesstörung auf die Welt kam, aber nicht daran, seinen Traum zu verwirklichen, Maler und Grafiker zu werden. Zunächst schuf er nur Werke in Schwarzweiß – bis eine faszinierende Technologie ihm neue Möglichkeiten eröffnete: Harbisson wagte es, sich einen Sensor in den Kopf implantieren zu lassen, der Farben in Töne verwandelt. Zwar veränderte die markante, vom Hinterkopf bis zur Stirn reichende „Antenne“ sein Erscheinungsbild deutlich, doch erweiterten sich Harbissons künstlerische Möglichkeiten nun um ein Vielfaches. 

Ganz und gar nicht angetan zeigte sich allerdings die britische Paßbehörde, die keine Ausweisfotos akzeptieren wollte, die Harbisson mit dem Sensor zeigten. Als sich aber sowohl Ärzte als auch Kollegen auf die Seite des Gehandicapten stellten, machte die Regierung in London schließlich eine Ausnahme. Daher gilt Neil Harbisson heute offiziell als erster staatlich anerkannter Cyborg – das heißt, Mischwesen aus Mensch und Maschine.

Dank seiner Medienpräsenz und vieler öffentlicher Auftritte wuchs Harbissons Bekanntheitsgrad, und immer mehr Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen bestürmten ihn, weil sie ebenfalls Cyborgs werden wollten. Gemeinsam mit der katalanischen Choreographin Moon Ribas gründete Harbisson daraufhin die Cyborg Foundation, deren Ziel es ist, die Sinne sowie sonstige biologisch vorbestimmte Möglichkeiten des menschlichen Körpers zu erweitern. Es geht also um die Schaffung weiterer Mischwesen und auch darum, daß die Gesellschaft den Cyborgs volle Rechte zuerkennt.

Das macht Harbisson zu einem der wichtigsten Vorkämpfer des sogenannten Transhumanismus. Diese umstrittene Bewegung entstand Mitte der 1950er Jahre und propagiert, der Mensch sei dazu berufen, seine weitere Evolution selbst in die Hand zu nehmen – wozu neben einer möglichst verantwortungsvoll betriebenen Eugenik, also der Manipulation des biologischen Vererbungsprozesses, auch eine Verschmelzung mit moderner Technik gehöre. 

Das wirft natürlich ethische Fragen auf, bei deren Beantwortung Kritiker wie der US-Politologe Francis Fukuyama schon einmal von der „gefährlichsten Idee unserer Zeit“ sprechen. Denn immerhin, so Fukuyama, stehe die Möglichkeit, sich künstlich zu optimieren, ja nur wenigen offen. Das impliziere eine radikale Vertiefung der gesellschaftlichen Gräben: Reiche könnten sich irgendwann „Unsterblichkeit“ erkaufen und „Übermenschen“ die Kontrolle über die normalen Vertreter unserer Art erlangen. Ist Neil Harbisson also vielleicht viel mehr als nur ein Paradiesvogel – nämlich der erste Vertreter einer neuen Spezies Mensch?