© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Flucht nach Europa
Asylkrise: Die Bundesregierung versucht über den Umweg Brüssel, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren
Paul Rosen

Europa hat seine Grundprinzipien verlassen – aus der Europäischen Union, die für gemeinsame Werte und Traditionen stehen wollte, ist faktisch ein Club von Rechtsbrechern geworden: Schengen, Dublin und Maastricht lauten die Schlüsselbegriffe für beispiellose Rechtsbrüche im Grenzregime, im Asylrecht und in der Währungspolitik. In diesem in zentralen Punkten gescheiterten Europa sieht die Bundesregierung ihre Zukunft und will in der Flüchtlingspolitik doch noch eine gemeinsame Lösung erreichen. Das sei ein „wahrlich dickes Brett, das es zu bohren gilt“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche in einer Regierungserklärung im Bundestag. 

Berlin vertraut auf die Jahreszeit

Merkels Flucht nach Europa hat zwei Ziele: den Bürgern Handlungsfähigkeit zu suggerieren und Zeit zu gewinnen. Nach wie vor kommen für Bundesregierung und parlamentarische Opposition Obergrenzen nicht in Frage. Es gilt, was Merkel schon seit längerem sagt und auch von der SPD so gesehen wird: Die Zahlen müssen reduziert werden. Aber dennoch stehen weiter Postnationalisierung und Multikulturalität auf dem Programm. Berlin vertraut jetzt auf die Jahreszeit: Ein kalter Winter dürfte die Einreisezahlen über die Ägäis zurückgehen lassen. Schon jetzt ist (mit Schwankungen) ein Rückgang feststellbar: Kamen im Oktober noch rund 10.000 Flüchtlinge pro Woche, so sank deren Zahl bis Mitte Dezember auf 4.000 pro Woche. Diese Massenreisen finden problemlos über eine Grenze statt, wo früher jedes versehentlich in türkische Gewässer geratene griechische Fischerboot aufgebracht oder sogar beschossen wurde – und umgekehrt. Das weiß natürlich auch die Bundesregierung und will mit europäischen Zahlungen an die Türkei diese wieder zur Schließung ihrer Grenzen bringen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Türkei die Situation in ihrem Land noch selbst unter Kontrolle hat. Nach jüngsten Berichten bestehen Zweifel. 

Die gibt es auch an anderer Stelle. So verfährt die EU bei der Aufstockung der europäischen Grenzschutztruppe nach einem ganz alten Muster. Sie gründet zur Bewältigung der Probleme (Masseneinwanderung) eine Behörde mit ein paar hundert Beamten und ein paar Schiffen (Frontex). Die bekommen das Problem, das im Zweifel ohnehin nur Militär lösen könnte, nicht im entferntesten in den Griff. Die EU sattelt jetzt nicht auf die gebotene Lösung (Militär) um, sondern erklärt das  Scheitern von Frontex mit zu schlechter Finanzierung und Ausstattung. In der Folge wird immer mehr Geld in ungeeignete Strukturen gepumpt. Aber speziell Merkel und andere deutsche Minister kehren dann aus Brüssel heim und verweisen auf erfolgreiche Vereinbarungen. Das Gegenteil ist richtig, wie der jüngste Gipfel zeigte. Die Erklärung kommt einem Offenbarungseid gleich. In der Tat: Frontex kann zwar illegale Einreisen nicht verhindern, aber immerhin noch zählen. So überquerten von Januar bis November 2015 1,55 Millionen Menschen illegal die EU-Außengrenzen. Allein im November reisten 269.000 Personen illegal ein, im Oktober 283.000. Diese Zahlen sind ein Eingeständnis des Scheiterns der gesamten Europäischen Union. Ein Staatenbund, der 1,55 Millionen illegale Einreisen zuläßt, hat versagt und sich selbst erledigt.  

Der Vollständigkeit halber sei der Ausgang eines weiteren wichtige Merkel-Projekts angemerkt: Vor Monaten hatte die EU schon beschlossen, 160.000 Flüchtlinge auf andere Länder umzuverteilen – vor allem aus Griechenland und Italien. Als die ersten Flüchtlinge aus Griechenland ausgeflogen wurden, reiste EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zur Verabschiedung an. Inzwischen sind europaweit 208 Flüchtlinge umgesiedelt worden. Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn, die Slowakei und Rumänien weigern sich strikt, mehr als symbolische Kontingente aufzunehmen – und Muslime wollen sie überhaupt nicht.  

Mehrere EU-Länder, darunter Deutschland, setzen jetzt auf Erpressung der östlichen Nachbarn. Der offenkundig von Berlin vorgeschickte österreichische Kanzler Werner Faymann drohte den Widerstand leistenden Ländern: „Wer unter dem Strich mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhält als einzahlt, sollte sich bei einer fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht einfach wegdrücken.“ Wer sich verweigere, stelle die Finanzierung des EU-Haushalts in Frage, „macht es Nettozahlern wie Österreich künftig sehr schwer, weiterhin so viel Geld einzuzahlen“. Solidarität sei keine Einbahnstraße. Deutschland ist übrigens der größte Nettozahler. Und was hier passiert, ist die Drohung mit dem Selbstmord des EU-Finanzsystems. In Brüssel selbst wird von einer „Nuklearoption“ gesprochen. Geeignet als Abschreckung, dürfe sie nie gezogen werden.  

Probleme der massenhaften Einwanderung überwiegend muslimischer Ausländer sind „Parallelwelten oder gar Kontragesellschaften, die den sozialen Frieden evident gefährden werden; jedenfalls dort, wo unsere freiheitlich offene Gesellschaft und ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen nicht akzeptiert oder mitgelebt werden. Die deutsche Flüchtlingspolitik scheint dies alles aber nicht zur Kenntnis zu nehmen“, befand der Staatsrechtler Rupert Scholz in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er forderte, sich den Herausforderungen der neuen Völkerwanderung zu stellen. Seine Partei, die CDU, tut dies längst nicht mehr.