© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Ins Ungewisse
CDU: Jens Spahn hat die Staatskrise erkannt und sucht Wege, sie zu überwinden
Michael Paulwitz

Jens Spahn, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Mitglied im CDU-Präsidium, war im September  einer der ersten in der Union, der sich kritisch zur „Wir schaffen das“-Politik der offenen Tore seiner Kanzlerin und Parteivorsitzenden geäußert hatte. Nach der Veröffentlichung seines Debattenbandes „Ins Offene“ Mitte November wurde er gar als Vordenker eines bevorstehenden Aufstands gegen die Willkommens-Kanzlerin gehandelt. Der Aufstand ist auf dem Karlsruher CDU-Bundesparteitag freilich ausgeblieben, und Spahn, den Wolfram Weimer schon zum „Seehofer der CDU“ ausgerufen hatte, hat sich wie dieser und einige seiner Autoren wieder hinter Angela Merkel und dem Formelkompromiß von der „spürbaren Reduzierung“ des Asylzustroms versammelt. 

Doch gerade deswegen lohnt ein Blick in den von Spahn herausgegebenen Band, in dem der 35 Jahre alte CDU-Politiker Debattenbeiträge von Politikern unterschiedlicher Couleur, Wissenschaftlern, Theologen, Wirtschaftsleuten, Sicherheits- und Islamexperten versammelt hat. Die Probleme sind schließlich dieselben geblieben, und auch Spahn hat nach Karlsruhe verschiedentlich zu Protokoll gegeben: Wenn sich nichts ändert, „haben wir in ein paar Wochen dieselben Debatten“.

Die Staatskrise, in die Deutschland durch unkontrollierte Massenzuwanderung geraten ist, hat Jens Spahn erkannt. Er beschreibt sie als „Bewährungsprobe“, als „größtes gesellschaftliches Experiment seit Jahrzehnten“, als partielles „Staatsversagen“, kurz als „Disruption“. Der Bruch beziehe sich auf die Bildungs- und Gesellschaftssysteme, vor allem aber auf den Umgang mit den eigenen Werten und Prinzipien. Der Rechtsstaat stehe massiv unter Druck. Der „naive Luxus, geltendes Recht nicht umzusetzen“, fordere einen hohen Tribut: Schneller als viele meinten, untergrabe der „rechtlose Zustand“, in dem der Zugang zu Staatsgebiet und Sozialsystem beliebig geworden ist, „die generelle Akzeptanz von Regeln und Gesetzen“.

Spahn plädiert deshalb für Zuzugsbegrenzung und eine verläßliche Kontrolle der EU-Außengrenzen – das Wunder sei ja ohnedies, daß Schengen so lange ohne Grenzzäune funktioniert habe. Dafür hat er in seinem Band einiges an argumentativer Verstärkung versammelt. Der Diplomat Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, fordert, Schlepperboote schon im Hafen zu versenken und auf hoher See zu beschlagnahmen. Klaus von Dohnanyi (SPD) weist die Kritik an den Grenzzäunen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zurück und fordert die Abweisung und Rückführung von Nicht-Asylberechtigten. Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister der südwestdeutschen Universitätsstadt Tübingen, verweist auf die Grenzen der Aufnahmefähigkeit der Städte und kritisiert die eigene Partei, weil sie „Obergrenzen der Belastbarkeit des deutschen Asylsystems“ aus prinzipiellen Gründen verneine. 

Der JU-Vorsitzende Paul Ziemiak, selbst als Aussiedlerkind nach Deutschland gekommen, bekräftigt die Forderung nach Obergrenzen für die Zahl der Aufzunehmenden. Der Siebenbürger Sachse und neue Präsident des Bundes der Vertriebenen Bernd Fabritius weiß realistisch, „daß sich die Zusammensetzung unserer Gesellschaft und damit unser Lebensumfeld durch den Flüchtlingszuzug nachhaltig verändern wird“. Bayerns Finanzminister Markus Söder gibt „ehrlicherweise“ zu, „daß am Ende die Schwächeren der Gesellschaft die Hauptlast der Integration werden tragen müssen (…) Dort wird die Konkurrenz um Jobs, Wohnungen und Sozialhilfen vor allem stattfinden.“ Und der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann spricht sich für eindeutige Zuzugsstopp-Signale an die Herkunftsländer aus, ein Wiederhochfahren der „zurückgebauten“ Verteidigungs- und Sicherheitskräfte und den Abschied vom singulären deutschen „individuell einklagbaren Asylrecht“, das der Rest Europas niemals übernehmen werde und das deshalb den anderen europäischen Staaten angepaßt werden müsse. 

Nicht jeder benennt die Probleme, die mit der kulturellen Prägung von Heerscharen von Einwanderern aus islamischen Diktaturen verbunden sind, so klar wie Mittelstandssprecher Linnemann, der massive Zweifel am „Wirtschaftswunder“-Optimismus äußert und die klare Trennung von Asylgewährung und zu steuernder Arbeitsimmigration einfordert, oder Spahn selbst, der sich als bekennender Homosexueller auch um importierte aggressive Schwulenfeindlichkeit sorgt.

Humanitäre Allgemeinplätze

Dem Mainstream geschuldet ziehen sich durch viele Beiträge, etwa den der rheinland-pfälzischen CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner, humanitäre Allgemeinplätze, die Beschwörung von „Chancen“ der Asyl-Zuwanderung und Appelle, bei der „Integration“ doch nicht die „Fehler der Vergangenheit“ zu wiederholen, sowie angesichts der Zahlen der bereits ins Land Gekommenen reichlich optimistische Absichtserklärungen, welche Bekenntnisse man Neueinwanderern abverlangen solle. 

Das Verdienst von Spahns Buch besteht denn auch weniger im konsequenten Zuendedenken als in der offenen Benennung von Fakten und Problemen, die im realitätsverweigernden „Wir schaffen das“-Diskurs konsequent ausgeblendet werden, und in der von vielen Autoren bekräftigten Absage an „Sozialpädagogen-Romantik“ und naiven Multikulti-Illusionismus.

Auf dem CDU-Parteitag haben Spahn und Ziemiak sich damit zufriedengegeben, in den schwammigen Leitantragsentwurf der Kanzlerin einige unverbindliche Formulierungen einzufügen. Wenn es ihnen ernst ist mit dem, was sie bisher gesagt und geschrieben haben, kann das nicht das letzte Wort sein.

Jens Spahn (Hrsg.): Ins Offene. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Die Debatte. Herder-Verlag, Freiburg 2015, gebunden, 208 Seiten, 19,99 Euro