© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Pankraz,
die Insel Grimsey und die stille Nacht

Fast ist es ein Wunder. Die kleine Insel Grimsey, ein Eiland von etwa fünf Quadratkilometern im arktischen Meer nördlich von Island, bezaubert das deutsche Lesepublikum über alle Spezial-Geschmäcke und Vorlieben hinweg und stimmt es richtig weihnachtlich ein. Und dabei gibt es nichts, was äußerlich zu Zauber und Weihnachtsstimmung einlüde. Dreihundert menschliche Bewohner in schlichten, bescheidenen Häuschen, eine Kirche, ein Kaufladen, ein (gar nicht hoher) Leuchtturm, Möwenschreie, Meeresrauschen, ein kleiner Hafen.

Ulrich Schacht, dessen Novelle „Grimsey“ (Aufbau Verlag, Berlin 2015, gebunden, 189 Seiten, 19,95 Euro) uns besagte Insel vorstellt, unternimmt nicht das geringste, um den Kasus in irgendeiner Richtung aufzupeppen. Er ist als Tourist gerade mal für einen Tag von Island herübergekommen und wandert das Gelände ab, begegnet einem kleinen Jungen, der in einer Straßenpfütze herumpatscht, ist erschrocken über einige tote Möwen, die „wie schneeweiße Handtücher“ auf der grünen Wiese herumliegen. Am späten Nachmittag geht es wieder zurück nach Island.

Was macht die Faszination dieses Textes aus, der zur Zeit so viel Aufmerksamkeit erregt und auch das diesjährige literarische Weihnachtsgeschäft sichtbar beflügelt hat? Der Ich-Erzähler der Novelle ist ein Fotograf, der üblicherweise „Bilder schießt“, doch gerade das sonst so beliebte und gut honorierte Bilderschießen findet in Grimsey nicht statt. Schachts Alter ego bildet nirgendwo etwas einfach ab, weder nach außen noch nach innen: zwar werden auf seinem Inselgang mancherlei Erinnerungen in ihm wach, und er versprachlicht sie auch, aber „erzählt“, in Sprache linear abgebildet, wird auch hier nichts.


Vielmehr findet die Sprache des Fotografen auf Grimsey, ob er nun nach außen oder nach innen blickt, einen Duktus, den Pankraz am liebsten als ein „Schreiten über den Wassern“ bezeichnen würde. Es ist ja keineswegs so, daß der Fotograf nichts Hochdramatisches, Erschreckendes und Existenzvernichtendes zu erinnern hätte. Wir lesen von Verfolgungen, Foltern, unendlichen Demütigungen. Doch merkwürdig: Je gräßlicher das reale Phänomen, um so gelassener, reiner, gleichsam mathematischer die Sprache, in der es aufscheint und seinen Widerpart findet.

Nicht die Spur von Schönrednerei ist da, zu schweigen von zynischer Gleichgültigkeit. Es gibt indessen auch keinerlei zuckriges „Engagement“, keinerlei Verabredungsgestus für Gutmenschen. Die Sprache des Grimsey-Entdeckers spricht gleichsam einzig für sich selbst, und dabei entsteht zwischen dem in der Pfütze patschenden Jungen auf der Insel und den eigenen Jugenderinnerungen des Autors eine ungeheure Identität, während sein erschrockener Blick auf die toten weißen Möwen auf der blühenden grünen Wiese sich wie von selbst deckt mit erinnernden Blicken auf Zuchthausfriedhöfe des zwanzigsten Jahrhunderts.

Grimsey am nördlichen Polarkreis ist eine sehr stille Insel, und auch die Sprache von Schachts Novelle ist eine sehr stille Sprache; das Paradox ist erlaubt und vom Autor sogar angepeilt. Eben das macht den Text ja speziell für die Weihnachtszeit so beliebt und lesewürdig. Auch die Sprache der Weihnachtszeit folgt einer Rhetorik der Stille. Man spricht von der Christnacht als von der „Stillen Nacht“, und danach kommen die „stillen Tage“ bis hin zu Silvester. Grimsey in beiderlei Form paßt gut da hinein.

An sich ist das Reden  von der „Stillen Nacht“ und den „stillen Tagen“ ja ein bißchen drollig und auf jeden Fall hinterfragbar. Denn die reale Nacht von Christi Geburt ist bekanntlich alles andere als still, sie ist im Gegenteil wahrscheinlich die lauteste Nacht, die es – zumindest im Abendland – gibt. Chöre brausen,Glocken schallen, es herrscht ein fröhliches Tuten und Sich-Besuchen, die dem Geist der wahren Stille so fern wie nur möglich ist. Dabei ist die Welt insgesamt ohnehin voll von Geräuschen, und es werden ihrer immer mehr, je weiter die Moderne mit Technik und omnipräsenter Medialität voranschreitet.


Der Lärm ist weithin zur Droge geworden; manche Menschen können ohne bestimmte Geräuschkulissen nicht einmal mehr schlafen. Witwen und andere Alleinstehende empfinden ein Grauen vor dem Nachhausekommen in die leere, allzu stille Wohnung. Der Großteil der Anrufe bei der Telefonfürsorge besteht aus solchen Menschen, die spätnachmittags, unmittelbar nach Ende des Arbeitstags, in die drückende Stille ihrer Einsamkeit zurückkehren und nichts mit sich anzufangen wissen.

Indes, nicht zuletzt deshalb wächst allenthaben die Sehnsucht nach Stille, und zwar im Quadrat der Lärmentfaltung. Man sehnt sich nach Stille, will aber auch lernen, sie nicht nur zu ertragen, sondern sorgsam und fruchtbringend mit ihr umzugehen. Die derzeitige Begeisterung für Grimsey legt davon Zeugnis ab. Wie sagte es einst Jean-Paul Sartre in seinem Ausgangsbuch „Die Wörter“? „Das, was man ‘Stil’ nennt, ist stets Ende der Diskussion, das Stillstellen des Diskurses und somit die befriedigte Stille und das geheime Ziel eines jeden Autors.“ Sollte es wenigstens sein, möchte Pankraz hinzufügen.

Und auch noch dies: Es macht Sinn, die Nacht von Christi Geburt als Stille Nacht zu verstehen. All die Lautheit, die Feierabend-Ausgelassenheit der Hirten wie der feierliche Auftritt der drei Könige, all die Chöre und Glockenklänge – sie führen, nicht anders als die Sartreschen Wörter, geradenwegs in die Stille, freilich in eine ungeheure Stille, in der nichts mehr von Einsamkeit und Verlorenheit ist, auch nichts von einer letztlich egoistischen Selbstversenkung à la Buddha, welcher lediglich auf sein nur ihm gehöriges „Satori“ wartet und dem darüber die Welt gleichgültig wird.

In der wahrhaft Stillen Nacht hingegen werden Welt und Mensch eins. Der Fotograf von Grimsey aber lehnt sich am Ende zurück; „er spürte plötzlich eine große Wärme in sich aufsteigen, als habe jemand Unsichtbares ein weiches wolliges Tuch um seinen Körper gelegt“.