© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Verwilderte Männer im Hochwald
Schatten eines Bombergeschwaders: Carl Maria von Webers „Freischütz“ an der Semperoper
Sebastian Hennig

Als im letzten Frühjahr das Programm für die neue Saison an der Dresdner Staatsoper bekannt wurde, da stach ein Termin sofort ins Auge. Die Aufführung der deutschen Nationaloper von Carl Maria von Weber, „Der Freischütz“, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, die gleichwohl manchen ärgert. Entweder wird sie gegen den Strich gebürstet oder tief in den Falten des dauernden Repertoires verborgen. In Dresden gelangte sie dagegen am 1. Mai zur Premiere, die zeitgleich auf den Theaterplatz übertragen wurde.

Es bedarf keines Algorithmus um die vorhersehbaren Übereinstimmungen im Kundenverhalten des Opernbetriebs festzustellen: Wer Christian Thielemann nicht mag, der mag auch nicht den Regisseur Axel Köhler. Und wem Heimatliebe als Beschränktheit gilt, der hält vitales Volkstheater für kolossalen Kitsch. Darum war es folgerichtig, daß sich Manuel Brug, der Thielemann-Verfolger vom Dienst, sogleich einschoß auf diese „Freischütz“-Inszenierung. Er schreibt in der Welt: „(…) das klingt in der Semperoper unter Christian Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle, als käme gleich die Pegida-Demo um die Theaterplatzecke. Kein Wunder, mußte das weltberühmte Opernhaus doch in den vergangenen Monaten eher unfreiwillig als Kulisse dienen für eben dieses verschwiemelte, vorgeblich gesunde Volksempfinden, das sich in nationalistischen, ausländerfeindlichen, revanchistischen, auch antisemitischen Parolen Luft machte. Das prägt. Und die sowieso rückwärtsgewandt traditionsverliebte Kulissenstadt an der Elbe erschien wieder mal als Dorado der Ewiggestrigen.“

Mit dergleichen absurden Vorurteilen läßt sich freilich kein Theaterabend beschreiben. Dem Kollegen geht es um Ablenkung. Sein Urteil stand vorab fest. Vorwände dafür hat er dann gefunden. Doch das, was Brug wirklich an der Inszenierung stört, hat er geschickt unterschlagen. Denn er will ihm keine Wirkung zugestehen. Darum tut er, als wäre das Musizieren, das Bühnenbild und die Handlung von einer historisierenden Biederkeit in der Art von Wolfgang Wagners Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung. Dem ist aber gar nicht so.

Heute genauso wie zu Eichendorffs Zeiten

Axel Köhler hat in Dresden mit „Svanda Dudak“ und „Carmen“ schon zweimal gezeigt, daß er eine sinnliche Musik durch kongeniale Bilder zu einer synästhetischen Erfahrung verbinden kann. Beim Besucher des Theaters setzt er weniger auf die Teilnahme am aktuellen Regie-Diskurs als vielmehr auf eine gewisse Welthaltigkeit der visuellen Erfahrungen des einzelnen. Das angeblich Ewiggestrige zeigt sich sehr heutig. So gewaltige Ruinen wie im ersten Bild lassen sich im benachbarten Böhmen oder Schlesien heute noch genauso erwandern wie zu Eichendorffs Zeiten. Eine Kassettendecke öffnet sich zum Himmel, und die aufgebrochene Wand gibt den Blick ins Waldesdunkel frei. Dort stehen die Bäume wie Säulen. Kein Licht dringt auf den Boden durch. Wer den deutschen Wald nur von der Bühne kennt oder aus Fantasy-Filmen, der findet sich nicht zurecht. Wer aber schon einmal einsam und unbehaust eine Nacht im Hochwald zugebracht hat, der kann der Vorspiegelung von Bühnenbildner Arne Walther seine Achtung nicht versagen.

Auch die Handlung nimmt das Textbuch von Friedrich Kind in der Dialogfassung von Werner Hintze ernst, ohne darüber die spielerische Anmut zu verlieren. „Kantors Sepherl“ trägt hier tatsächlich die Schützenscheibe. Die guten Weiber sind Assistenzfiguren, wie es sich für das damalige öffentliche Leben schickte. Die Gesellschaft, zumal jene der Jäger, ist durch ein verwildertes Männertreiben gekennzeichnet. Wem das nicht paßt, der kann ja in „Tosca“, „La Boheme“ oder „Schwanensee“ gehen. Beim „Freischütz“ wirkt dieses Selbstverständliche als eine große Befreiung. Statt psycho-sozialer Konstruktionen gibt es vitales Leben auf der Bühne.

Selbst der finstere Kaspar (Georg Zeppenfeld) ist als Bösewicht ein Prachtexemplar. Man möchte sich von ihm fernhalten und ist doch eingenommen von diesem Bild von einem Mann. Es ist die Stimme des Sängers, die hier eine kräftige Persönlichkeit modelliert. Sara Jakubiak als Agathe sang in der Premieren-Folge zwar ohne Fehl. Doch mangelt es ihr an Innigkeit und Versonnenheit zu dieser Rolle. Sie blieb etwas steif und kühl. Die Sächsische Kammersängerin Ute Selbig rückt in den folgenden Aufführungen der Agathe um einiges näher.

Einige Frauen zeigen sich von der Drastik entsetzt

Als Maßstab für einen Dresdner „Freischütz“ wird die legendäre Einspielung der Dresdner Staatskapelle von 1972 unter Carlos Kleiber angelegt. Christian Thielemann weiß die Schönheit, Klarheit und Natur der Musik vorzuführen und überliefert sie keinem besinnungslosen Rausch.

„Darf Furcht im Herz des Waidmanns hausen?“ fragt Max die Geliebte. Während er sich noch von ihr losreißen muß, sehen wir Kaspar, wie er eine Leiche heranzieht und ihr waidmännisch den Kopf abwirkt. Dabei geht die Klinge höchst realistisch durch den Widerstand der Halswirbelsäule. Einige Frauen im Publikum zeigen sich entsetzt von der Drastik. So wird deutlich, daß in den letzten Jahrzehnten mit den Tonnen an Blut und Sperma auf deutschen Bühnen ganz wirkungslos provoziert wurde. Eine natürliche Empfindlichkeit ist nach wie vor gegeben. An dieser Stelle, dort, wo es der Handlung entspricht und das Dargestellte fühlbar macht, wird das Publikum nur noch selten gereizt.

Auch die Musik geht in die gleiche Kerbe. In der Wolfsschluchtszene verwandeln sich in einem kaum wahrnehmbaren Augenblick die Mauersegler oder Fledermäuse in die Schatten eines Bombergeschwaders. Der Wald wird in eine anhaltende Feuerglut getaucht, die nach der siebten Kugel in einem magnesium-hellen Blitz verendet. Nun wissen wir auch, warum uns der Kritiker diesen Theaterabend auszureden suchte. „Freischütz“ war die letzte Vorstellung vor der Zerstörung der Semperoper durch die anglo-amerikanischen Bomber und mit „Freischütz“ wurde das wieder aufgebaute Haus zum 40. Jahrestag seiner Zerstörung im Februar 1985 wiedereröffnet.

Während des Jägerchors führen die Kinder eine Pantomime auf. Die Mädchen werden als scheues Wild von den Jägerknaben erlegt. Die über ihnen stehend die Trophäe an sich reißen. Als die Fürsprache des Eremiten (Tilmann Rönnebeck) am Schluß das geprüfte Liebespaar zusammenführt, nehme ich wahr, wie auf den Plätzen neben mir eine Frau ihre Hand gerührt auf die ihres Ehegatten legt.


Die nächsten und letzten Vorstellungen des „Freischütz“ in dieser Spielzeit an der Semper-oper Dresden, Theaterplatz 2, finden am 9., 15. und 21. Januar 2016 statt. Kartentelefon: 03 51 / 49 11 705

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