© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

„Gut, daß ich auf Kohl nicht mehr angewiesen bin“
Politische Chronik aus der Wendezeit: Kurt Biedenkopfs Tagebuch-Notizen aus den Jahren 1989 bis 1994
Paul Leonhard

Das Erscheinen der ersten drei Bände Tagebücher von Kurt Biedenkopf hat in Sachsen kurzzeitig Staub aufgewirbelt. Allerdings nicht wegen ihres Inhalts – für diesen Fall hätten die Empörten sie erst einmal lesen müssen –, sondern wegen ihrer Finanzierung. Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hatte veranlaßt, daß seine Staatskanzlei die Betreuung des Tagebuch-Projektes durch die Konrad-Adenauer-Stiftung mit mehr als 300.000 Euro finanziert.

Damit hat das Erscheinen der Tagebuchnotizen ein ähnliches Geschmäckle bekommen wie die letzten Monate des Ministerpräsidenten „König Kurt“ Biedenkopf, als zunehmend klar wurde, daß insbesondere dessen Ehefrau eine Extrabehandlung im Freistaat erwartete (Ikea-Affäre). Abgesehen davon, ob der Freistaat deren Erscheinung tatsächlich mit Steuermitteln unterstützen mußte, sind die Tagebücher, die die Zeit von Juni 1989 bis September 1994 umfassen, eine wichtige Quelle, um zu verstehen, wie schwierig der Aufbau von Bundesländern aus dem administrativen Nichts war.

Sie zeigen auch den Wandel eines vom politischen Alltag desillusionierten, in Ränkespielen unterlegenen Politikers zu einen aufgrund seiner Aufbauleistung angesehenen Ministerpräsidenten. Die Eintragungen sind überdies ein Lehrstück der Entwicklung von Parteien, weil sie erklären, warum es Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen nie so recht gelungen ist, in Sachsen Fuß zu fassen. Biedenkopf beschreibt, wie zerstritten die Sachsen-Union war und räumt ein, daß es ihm eigentlich nie gelungen sei, diese zu einen. Er analysiert die verkrusteten Strukturen der Bundes-CDU, die erst die überraschende Kandidatur des sächsischen Innenministers Heinz Eggert für das Amt des stellvertretenden Bundesparteivorsitzenden durcheinander wirbelt. Wahlen zwischen Alternativen – ein damals noch nicht unübliches Phänomen im Gegensatz zu einer heute herrschenden Politik der Alternativlosigkeit.

Die Chance, ein Bundesland aus dem Nichts zu formen

Insbesondere der zweite Band, der die Zeit von November 1990 bis August 1992 beinhaltet und den Titel „Ein neues Land entsteht“ trägt, vermittelt beeindruckend, wie komplex die Schwierigkeiten waren, vor denen Biedenkopf und die anderen verantwortlichen Politiker standen, um aus dem zusammengebrochenen „Arbeiter- und Bauernstaat“ „blühende Landschaften“ zu formen. Es tauchen all jene, heute weitgehend vergessenen Akteure auf, die insbesondere Sachsen zu dem machten, was es ist: ein selbstbewußter, wirtschaftlich erfolgreicher Teil Deutschlands.

Biedenkopf als Premier war für die sächsische CDU 1990 nicht die erste Wahl. Man wollte lieber Heiner Geißler. Auch um Einheitskanzler Helmut Kohl, dem die Sachsen im Zweifel auch heute noch verbundener sind als „König Kurt“, nicht zu verprellen. Kohl hatte sich eindeutig gegen einen Spitzenkandidaten Biedenkopf ausgesprochen. Erst als Geißler kurzfristig absagte, trat die Sachsen-CDU über Lothar Späth auf Biedenkopf zu, verkündete der in die CDU gewechselte Bürgerrechtler Arnold Vaatz seinen erstaunten Parteifreunden im Dresdner Tal der Ahnungslosen: „Der Biedenkopf, der Professor aus Leipzig, machts.“ So steht es zwar nicht wörtlich im Tagebuch, aber so wird es noch heute von denen kolportiert, die damals dabei waren.

Daß Biedenkopf zusagte, dürfte vor allem mit der ablehnenden Haltung seines Widersachers Kohl zu tun gehabt haben. Denn plötzlich bot sich dem Wirtschaftsprofessor die einmalige Chance, ein ganzes Bundesland aus dem Nichts zu formen. Interessant ist die Einschätzung Meinhard Miegels, des Mitbegründer des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, den Biedenkopf zuvor noch um Rat gefragt hatte: An Biedenkopfs Qualifikation für diese Aufgabe könne es zwar keine Zweifel geben, antwortete Miegel, aber „Deine Fähigkeiten liegen vor allem in der Erkenntnis längerfristiger Entwicklungen, weiträumiger Zusammenhänge und neuer Wege. Dafür wird kaum Zeit bleiben.“ Miegel prognostizierte „harte, pragmatische Knochenarbeit, die wenig Gelegenheit zu tiefergreifenden Überlegungen und Reflexionen biete“, aber andererseits eine „große und interessante Herausforderung“. Die Annahme oder Ablehnung der Aufforderung sei eine Lebensentscheidung.

Zum Glück für die Sachsen hat sich Biedenkopf dieser letztlich gestellt. Insbesondere die Leipziger Christdemokraten, die Biedenkopf als Professor an ihrer Universität kennengelernt hatten, trauten ihm zu, Probleme zu erfassen und einer Lösung zuzuführen. Biedenkopf ging es aber auch um neue Lösungen für die alten Fragen der Bundesrepublik. So notierte Biedenkopf am 30. Juni 1989 frustriert: „Die alten Wege haben sich erschöpft.“ Die ständige Expansion der Wirtschaft bedrohe zunehmend die Umwelt und die endlichen Ressourcen: „Wir stehen am Beginn eines Paradigmenwechsels.“

Nach dem erfolgreichen Landtagswahlkampf überstürzen sich die Eindrücke und Aufgaben, so daß für das Tagebuch Stichworte ausreichen müssen. In allen Bereichen muß entschieden werden, ohne praktische Erfahrungen mit der Umwandlung einer Plan- in eine Marktwirtschaft, ohne Kenntnisse der sozialistischen Realität. Die drohende Arbeitslosigkeit, der überdimensionierte öffentliche Dienst, die gesetzliche Rentenversicherung, die Ansiedlung neuer Industrien, die Basis für eine neue politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung, die Privatierung von Volkseigentum, der Aufbau einer Rechtsordnung, einer funktionerenden Verwaltung, eines modernen Verkehrssystems, die Erneuerung der Schulen und Universtitäten, die Ausarbeitung einer Verfassung – das alles findet sich in Stichworten wieder, die „Notwendigkeit, alle wesentlichen und in ihrer Widersprüchlichkeit schwer faßbaren Probleme gleichzeitig aufzugreifen und zu bewältigen“.

Dazu kommt das Unverständnis des Westens für die Probleme in der DDR. „Die Bonner sind weit weg“, notiert Biedenkopf am 9. November 1990: „Ihre Diskussionen erscheinen mir unwirklich und zum Teil eher kleinkariert.“ Und: „Wie gut, daß ich jetzt meine eigene politische Basis habe und auf Kohl nicht mehr angewiesen bin.“ Da war die Regierung gerade vereidigt worden. Und wieder folgen Stichworte zu den wichtigsten Fragen: der problematischen Finanzsituation der Städte, der gezielten Abwerbung von Facharbeitern, der Arbeit der Treuhand, aber auch der sich zuspitzenden Situation in der Golfregion.

Biedenkopf hofft 1992, Bundespräsident zu werden

Amüsant ist Biedenkopfs Schilderung einer nicht unbedingt verfassungskonformen, aber typisch sächsischen Einrichtung: des mit zwei, später vier Mitarbeiterinnen ausgestatteten „Büro Ingrid Biedenkopf“. Denn die Ministerpräsidentengattin hatte sich jener Tausenden Schreiben von Bittstellern angenommen, die sich mit ihren Problemen wie zu SED-Zeiten an das Staatsoberhaupt wandten. 

Für den Ministerpräsidenten hatte das einen positiven Nebeneffekt: „Viele Eingaben beschäftigten uns beim Frühstück. Im Laufe der Zeit war ich deshalb besser über das Denken der Menschen im Land unterrichtet, über ihre Sorgen und Ängste, ihre Probleme und Schwierigkeiten, aber auch ihre Wünsche und Hoffnungen als mancher meiner Kollegen. In Westdeutschland wäre Vergleichbares bereits an der Überzeugung gescheitert, ein Ministerpräsident dürfe nicht in dieser Weise mit seiner Frau zusammenarbeiten.“ Daß sich Ehefrau Ingrid auch ansonsten immer wieder aktiv ins Geschehen einbringt, ist im Tagebuch ausgespart, obwohl die mit dem Ehepaar Biedenkopf in der legendären Minister-Wohngemeinschaft auf der Dresdner Schevenstraße lebenden Kabinettsmitglieder seinerzeit häufig darüber klagten. Überhaupt fehlen persönliche Anekdoten fast völlig.

Dafür werden ausgiebig die Scharmützel mit Bundeskanzler Kohl geschildert. Diesem wirft er vor, die Einheit nicht als Grundlage für eine Erneuerung ganz Deutschlands begriffen zu haben. Hier sitzen die Wunden aus der Vergangenheit tief, wie Einträge zeigen, in denen Biedenkopf notiert, daß die beiden nun auf Augenhöhe miteinander verkehrten, man sich gegenseitig brauche. Und daß er in den Spiegel-Umfragen immer wieder als ein Politiker auftaucht, der eine wichtigere Rolle spielen sollte, freut Biedenkopf. Aber es treiben ihn auch Selbstzweifel um. „Soll ich es mit vier Jahren in Sachsen genug sein lassen?“ heißt es am 30. November 1991. 

Als später ein Bundespräsident gesucht wird, notiert Biedenkopf am 29. Mai 1992: „Ich kann das Gefühl nicht unterdrücken, daß Kohl an mich denkt. Die Aufgabe würde mir liegen.“ Und einige Zeilen weiter: „Wenn Kohl wirklich interessiert ist, muß er den Vorschlag von sich aus machen.“ Vorgeschickt wird schließlich der konservative sächsische Justizminister Steffen Heitmann, dessen Rückzug von der Bewerbung den Weg für Biedenkopf freizumachen scheint, aber im komplizierten politischen Ränkespiel einigte sich die CDU-Spitze auf Roman Herzog. Ein Prozeß, den Biedenkopf interessant in seinem Tagebuch beschreibt. Spannend dürften auch die Folgebände sein, die die Zeit bis 2002 beinhalten und vielleicht die Frage beantworten, warum Biedenkopf schließlich gestürzt werden mußte.

Kurt Biedenkopf: Von Bonn nach Dresden. Aus meinem Tagebuch Juni 1989 – November 1990. Siedler Verlag, München 2015, gebunden, 432 Seiten, 29,99 Euro

Kurt Biedenkopf: Ein neues Land entsteht. Aus meinem Tagebuch November 1990 – August 1992. Siedler Verlag, München 2015, gebunden, 528 Seiten, 29,99 Euro

Kurt Biedenkopf: Ringen um die innere Einheit. Aus meinem Tagebuch August 1992 – September 1994. Siedler Verlag, München 2015, gebunden, 528 Seiten, 29,99 Euro