© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Deutschland gibt der Wildnis eine Chance
Ungeachtet der Masseneinwanderung sollen im Bundesgebiet die Naturräume wachsen
Christoph Keller

Daß die ungebremste CO2-Aufladung der Erdatmosphäre in Afrika und Asien in absehbarer Zeit bedeutende Wanderungsbewegungen auslösen könnte – diese Einschätzung gehört zum Standardrepertoire medial aufbereiteter Katastrophenprognosen in Sachen Klimawandel. Neu ist hingegen das Resultat einer Analyse des Makroökonomen Andreas Löschel (Universität Münster), das Spiegel Online am 1. Dezember 2015 zum Auftakt des Pariser Klimagipfels veröffentlicht hatte. Demnach müsse Europa nicht erst auf „Klimaflüchtlinge“ warten, um unangenehm hautnah mit den Folgen des Treibhauseffekts konfrontiert zu werden.

Ausländerzuzug verhagelt Umweltschutzbilanz

Für Löschel, der seit 2011 eine Expertenkommission leitet, die Deutschlands „Fortschritte“ bei der Energiewende registrieren soll, stellen nämlich bereits die keineswegs vor Klimaextremen geflohenen, überwiegend illegal Eingereisten des Jahres 2015 die ehrgeizige Energiepolitik der Bundesregierung in Frage. Denn zwangsläufig erhöhe der „starke Zuzug von Migranten“ Deutschlands Kohlenstoffdioxid-Ausstoß. Allein eine Million Menschen mehr hierzulande würden bis 2030 mit zusätzlichen 6,7 Millionen Tonnen die CO2-Bilanz so erheblich belasten, daß sie gut die Hälfte der avisierten Einsparung von acht abgeschalteten Kohlekraftwerken wieder aufhöben. Dabei ist in Löschels Modellrechnung weder die Tatsache berücksichtigt, daß der Energieverbrauch pro Kopf in den Industriestaaten um 80 Prozent über dem im globalen Süden liegt, noch die offizielle Berliner Prognose, die ab 2016 mit einem jährlichen „Zuwanderungssaldo“ von wenigstens 500.000 Personen ausgeht, noch die Auswirkung auf die breite Palette ökologischer Langzeitprojekte jenseits des Kohlenstoffdioxids.

Darunter müßte sich wahrscheinlich die meisten Abstriche die „Nationale Biodiversitätsstrategie“ gefallen lassen. Sie strebt bis 2020 unter anderem die Ausdehnung von Wildnisgebieten auf zwei Prozent der Landesfläche an – das sind etwa 712.000 Hektar. Angesichts des täglichen Verlustes von 77 Hektar überbauten oder versiegelten Bodens heute schon und angesichts angekündigter megalomaner Wohnungsbauprogramme für illegale Einwanderer könnte diese Strategie bald genauso Makulatur sein wie der Plan, bis 2020 fünf Prozent der Waldfläche aus der Nutzung zu nehmen und sie „natürlicher Entwicklung“ zu überlassen.

In die jüngsten Berechnungen zum Status quo und den Potentialen an Wildnis- und Wildnisentwicklungsgebieten, wie sie eine Arbeitsgruppe um Gert Rosenthal (Fachgebiet Landschafts- und Vegetationsökologie, Universität Kassel) im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz jetzt präsentiert (Natur und Landschaft, 9-10/15), ist Löschels Problemszenario noch nicht eingegangen. Entsprechend optimistisch glaubt Rosenthal, gestützt auf Umfragen, denen zufolge die meisten Deutschen „mehr Wildnis“ wollen, das Planziel lasse sich bis 2020 realisieren.

Eine Voraussage, die Rosenthal aber selbst relativiert, indem er ihre Berechnungsgrundlage verändert. Als Wildnis gilt nämlich nur ein ausreichend großes, unzerschnittenes, nutzungsfreies Gebiet, das dazu dient, einen von Menschen unbeeinflußten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten. Umstritten ist, welche Mindestflächengröße dieses von anthropogener Infrastruktur (Siedlungen, Straßen) freie und gegen menschliche Störungen abgeschirmte Gebiet aufweisen muß.

Naturraum entsteht durch Tricksen beim Zuschnitt

Legt man den Schwellenwert bei niedrigen 1.000 Hektar fest, wäre ein kleinteiliges Wildnis-Mosaik, das sich bis 2020 zu den geforderten 712.000 Hektar zusammenfügt, wohl machbar. Hebt man hingegen den Schwellenwert nur auf 2.000 Hektar pro „Wildnis“ an, werde das Ziel klar verfehlt. Entsprechend halbiere sich, was derzeit im Bundesgebiet an naturferneren, weil sich nicht gänzlich selbst überlassenen „Wildnisentwicklungsgebieten“ zur Verfügung stehe: 739.000 Hektar an National- und Naturparks, Biosphärenreservaten, Landschafts- und Vogelschutzgebieten, die im Norddeutschen Tiefland und im Alpenvorland konzentriert sind.

Großräumiges, naturnahes Potential an echten Wildnisgebieten weisen in der Bundesrepublik überhaupt nur die Alpen und die Mittelgebirge dort auf, wo sich zusammenhängende Wälder erhalten haben. Obwohl erste Privateigentümer ihre Wälder aus der Nutzung nehmen, ließe sich dieses Flächenvolumen nur dann entscheidend ergänzen, wenn der Staat vermehrt öffentliches Eigentum in Wildnis verwandle. Hier richten sich die Begehrlichkeiten der Ökologen vor allem auf militärische Übungsplätze, auf die hydrologische Sanierung von Mooren, auf Flußauen wie das renaturierte Biosphärenreservat „Niedersächsische Elbtalaue“ und auf „Bergbaufolgelandschaften“.

Unter der Voraussetzung, bereits tausend Hektar als Wildnis zu deklarieren, sei dann ein „naturräumliches Flächenpotential zur Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels“ der Biodiversitätsstrategie „grundsätzlich gegeben“. Die größte Herausforderung bestehe jedoch in der „tatsächlichen Realisierung“ von naturbelassenen Prozessen in einem Großteil dieser Flächen.

Und trotz der zunehmenden Popularität von Wildnis in Europa sollten daher deren gesellschaftliche Akzeptanz weiter gesteigert und deren positive Effekte noch mehr ins öffentliche Bewußtsein gehoben werden. Eine Mahnung, bei der Gert Rosenthal und seine Forschergruppe primär die politische Akzeptanz der Finanzierung von ökonomisch „nutzloser“ Wildnis im Auge haben. Eine Sorge, die durch Andreas Löschels Blitzanalyse der Folgekosten der orientalisch-afrikanischen Masseneinwanderung nach Europa noch erheblich wachsen dürfte.