© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Leichenschmaus für einen Mythos
Bayern: Zum letzten Mal tagt die CSU im legendären Wildbad Kreuth, um ihre politische Eigenständigkeit zu beschwören
Paul Rosen

Hell läutet die Glocke der Kapelle am alten Badehaus. Hinter dem Hochland erheben sich majestätisch die Alpen. Wer aus der lärmenden Stadt kommt, glaubt hier der Schöpfung ein Stückchen näher zu sein. Mensch und Vieh verlieren sich vor märchenhafter Kulisse. Rauch zieht aus dem Kamin der kleinen Gaststätte. Der Blick fällt auf langgezogene Gebäude mit einem Kursaal, von dem aus schon russische Zaren die einmalig schöne Sicht auf das Tegernseer Tal genossen. Hier, im bayerischen Voralpenland, wurde ein Mythos der alten Bundesrepublik geboren: Kreuth steht für den Traum der deutschen nationalen und konservativen Kräfte nach einem eigenständigen politischen Weg.

Sorgen bei Linken, Hoffnung bei Konservativen

Vor 40 Jahren, in Bonn stand Helmut Schmidt an der Spitze einer SPD/FDP-Koalition, trafen sich die Bundestagsabgeordneten der CSU erstmals in Wildbad Kreuth zu einer Klausur. Das Anwesen gehört bis heute den Wittelsbachern, dem bayerischen Königshaus. Parteichef Franz Josef Strauß verkündete nach nächtelanger Debatte eine Sensation: die Auflösung der seit 1949 bestehenden Fraktionsgemeinschaft mit der CDU.

Im Reform-Klima der sechziger und siebziger Jahre überzeugte die Union mit ihrem Gemischtwarenladen-Programm von Sozialauschüssen bis zu den deutschnationalen „Stahlhelmern“ nicht mehr. Strauß gab die Devise aus: „Getrennt marschieren, vereint schlagen.“ Für wenige Wochen gab es tatsächlich eine eigenständige CSU-Fraktion im Bonner Bundestag, bis Strauß in die Fraktionsgemeinschaft zurückkehrte. Kohl hatte der CSU mit dem Einmarsch nach Bayern gedroht. 

Eine völlige Niederlage für Strauß und die CSU war die Rücknahme des Trennungsbeschlusses nicht: Kreuth wurde erst Symbol, dann Mythos. Jederzeit, so die jahrzehntelang gepflegte Legende, könne der bayerische Löwe aus den Bergen kommen und seine Pranken gegen Bonn beziehungsweise Berlin erheben. Wildbad Kreuth – das waren „drei Silben wie drei Kanonenschüsse in der politischen Landschaft“, faßte Matthias Matussek zusammen. 

Eine ganze Generation wurde vom „Kreuther Geist“ geprägt. Linke bekamen bei den drei Silben Sorgenfalten. Konservative und Nationale hofften, der Geist werde freigelassen und sie im Kulturkampf gegen Linksgrüne stärken – übersehend, daß das barockhaft-selbstverliebte Bayern sich im Märchenkönig Ludwig II. und seinen Prachtbauten wiederfindet und nicht im Säbelgerassel preußischer Könige und ihrer Armeen. Maximilian von Montgelas (1759–1838) schuf die moderne bayerische Staatsverwaltung, um dem bezaubernden Land die Existenz zu sichern und es noch schöner werden zu lassen; Freiherr vom Stein reformierte die preußische Verwaltung, damit das Königreich am Ende des nächsten Krieges siegreich dastehen möge. Das sind deutsche Gegensätze, die bis heute nachwirken. 

Mit seiner gepflegt derben Art hatte Strauß für den Eindruck gesorgt, die Bayern wären die letzten Preußen, und nur sie seien in der Lage, den „Saustall“ (Strauß über Bonn) auszumisten. „Der wird nie Kanzler werden. Der ist total unfähig. Ihm fehlen alle charakteristischen, geistigen und politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles“, ätzte FJS auch über Helmut Kohl, den späteren Kanzler der Einheit. 

Barocke Gestalten der deutschen Politik

Dennoch war es Kohl, der Schmidt ablösen konnte und Strauß zum Rückzug in sein Voralpenreich veranlaßte. Kanzler wollte er nach der mißglückten Kandidatur 1980 nicht mehr werden: „Es ist reizvoller, in Alaska eine Ananasfarm zu errichten, als Bundeskanzler zu werden.“

Lieber regierte Strauß Bayern, das er unter Beachtung der „Libertas Bavariae“ in einen modernen Industriestaat mit landsmannschaftlicher und kultureller Bodenhaftung verwandelte. Und er pflegte den Mythos Kreuth. Ganz Deutschland blickte an jedem Feiertag der Heiligen Drei Könige fasziniert zum Tegernsee, wenn dort die CSU-Granden den Hang zur Klausur hinauffuhren. 

Kreuth – das waren immer verdammt harte Tage. Es war eiskalt, der Weg zur Wärmstube in der kleinen Gaststätte durch den hohen Schnee weit. Das Warten in der Kälte gehörte dazu: auf Strauß, Gerold Tandler und Fritz Zimmermann, später auf Theo Waigel, Edmund Stoiber und Michael Glos. Es waren barocke Gestalten der deutschen Politik, die im dichten Schneetreiben aus den Autos vor dem Kurhaus stiegen und mit klaren konservativen Ansagen ihre Positionen wie Pflöcke ins Erdreich rammten.

Immer schwang die Erwartung mit, die CSU könne doch noch einmal die Trennung wagen. Rief nicht ein großes Ölgemälde mit einem lächelnden Strauß im Eingang der von der parteinahen Hanns-Seidel-Stiftung betriebenen Tagungsstätte geradezu dazu auf, das Werk des Meisters zu vollenden und Deutschland die konservative Kraft zu gebären, die die „Nordlichter“ (Strauß über den außerbayerischen Rest der Union) nicht erschaffen konnten? Von Waigel war nichts zu erwarten. Der Schwabe war politisch schwach. CSU-Chef Stoiber hätte, wie man in Bayern sagt, die „zweite Luft“ für historische Taten gehabt. Seine Kanzlerkandidatur 2002 kam zur Unzeit. Angela Merkel fuhr 2005 die Ernte ein und ekelte mit Intrigen den als Minister vorgesehenen Stoiber aus Berlin fort. Ausgerechnet in Kreuth wurde Stoiber zwei Jahre später gestürzt. 

Der Sturz war die Zäsur, das Ende einer Ära, was die damals im kalten Licht der Sterne über dem Tegernseer Land wartenden Beobachter nicht sofort realisierten. Mit Stoibers Ende verlor die CSU ihren bundespolitischen Anspruch. Wenn heute Horst Seehofer aus der Limousine steigt, hat er keine Botschaft mehr. Seehofer, ein Hallodri, sagt heute so und morgen anders. Für die Kanzlerin ist er ein Holzkasperl, der Arme und Beine hebt, wenn sie an der Schnur zieht und „keine Obergrenze“ sagt. 

Der Rest der Kreuther Geschichte ist schnell erzählt. Die Wittelsbacher wollen mehr Miete, und die Seidel-Stiftung hat angesichts des vor der CSU nicht haltmachenden Niedergangs der Volksparteien kein Geld mehr, die in die Jahre gekommene Tagungsstätte weiter zu betreiben. Die Leute kommen nicht mehr zu den Bildungsseminaren. Das Wurzelwerk der Volksparteien vertrocknet. Aus lebhaft debattierenden Orts- und Keisverbänden sind Seniorenclubs geworden. Die Stiftung wird Kreuth 2016 aufgeben. Vielleicht könne die CSU später in einem neuen Hotel in Wildbad tagen, heißt es. 

Epilog: Für diesen Donnerstag, 40 Jahre nach dem Kreuther Trennungsbeschluß, hat die CSU-Landesgruppenvorsitzende Gerda Hasselfeldt, eine enge Freundin der Kanzlerin, zu einem „festlichen Abend der CSU-Landesgruppe“ in Kreuth eingeladen. Das wird keine Jubiläumsfeier, nein, es wird der Leichenschmaus für einen Mythos. Kreuth ist Geschichte.

Foto: Das bislang von der Hanns-Seidel-Stiftung genutzte ehemalige Kurgebäude in Wildbad Kreuth (2009): Jahrzehntelang gepflegte Legende