© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Gefahr einer Fehlerkatastrophe
Politökonomie: Die mangelnde Irrtumsfähigkeit in der Flüchtlings- und Eurokrise zeitigt verheerende Folgen für die EU
Dirk Meyer

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn brachte es auf den Punkt: „Die Europäische Union kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen die Regel wird.“ Stand bislang lediglich die Eurozone vor einer Zerreißprobe, so hat die Flüchtlingskrise die gesamte EU aus den Fugen geraten lassen. Es bleibt allerdings die Frage, ob Solidaritätsmangel und Abschottung als Ursachen herhalten können.

„Keine Experimente“ ist der falsche Lösungsansatz

Richtig ist, daß laut Uno-Kommissariat UNHCR 2015 offiziell mehr als eine Million Flüchtlinge nach Europa kamen. Die Hauptlast wurde – bezogen auf die jeweilige Einwohnerzahl – einseitig von Ungarn, Schweden, Österreich, Finnland oder Belgien getragen. Deutschland nahm zusätzlich auch Hunderttausende vom Balkan auf. Frankreich, Irland, Spanien, Portugal und die meisten Ost-EU-Länder entziehen sich einer solidarischen Migrantenverteilung. Die Slowakei registrierte bis zum dritten Quartal 2015 lediglich 180 Asylbewerber.

Demgegenüber tragen die Eurostaaten die 851 Milliarden Euro Rettungshilfen gemeinschaftlich. Zudem sucht man hier keinen Schutz durch Abschottung neuer Mitglieder. Seit 2007 wurden sieben neue Länder in die Eurozone aufgenommen. Wie die dritte Griechenland-Rettung zeigte, lodern aus dem Euro-Schwelbrand immer wieder Flammen. Offensichtlich läßt er sich nicht dauerhaft unter Kontrolle bringen: Trotz unterschiedlicher Handlungsmuster drohen ein Scheitern des Euro und der EU-Integration. Möglicherweise sind die existenzgefährdenden Krisen in der mangelnden Irrtumsfähigkeit begründet.

Was heißt Irrtumsfähigkeit? Ausgangspunkt bildet das Recht auf Irrtum. Es ist die Freiheit, Fehler machen zu dürfen in Verbindung mit Anreizen, diese Chancen nur in verantwortungsvoller Weise zu nutzen. Das Recht auf Irrtum begründet zugleich das Recht auf Kritik. In seiner statischen Ausprägung beinhaltet dieses Recht die Möglichkeit, einen vorliegenden Sachverhalt zu benennen und als Fehler zu beanstanden. In dynamischer Sicht stellt jede Neuerung eine Kritik am Status quo dar, da das neue Bessere das bestehende Alte obsolet werden läßt und es letztendlich verdrängt.

Ein Grenzpunkt der Verantwortbarkeit liegt in einer räumlich-zeitlichen Begrenzung der Risiken, in der Isolierbarkeit von Fehlern und Irrtümern und in der Forderung nach ihrer (kollektiven) Überlebbarkeit. Die Vermeidung von Fehlerkatastrophen, die durch eine Häufung von schwerwiegenden Fehlern gekennzeichnet ist, setzt prinzipiell die Umkehrbarkeit unerwünschter Entwicklungen voraus. Umgekehrt ist ein Lernen – allgemein der Fortschritt – ohne den überlebbaren Irrtum undenkbar.

Genau diese Eigenschaften erfüllt das Experiment als Methode von Versuch, Irrtum und Lernen. In dem Bewußtsein, nichts Genaues zu wissen, aber eine (richtige) Frage gestellt zu haben, ist bei einem Versuch ein unvorhergesehener, überraschender Irrtum gar nicht möglich. Nicht blind sein, sondern sich blind stellen, hält die (Ent-)Täuschungskosten gering und macht das Experiment zu einem enttäuschungsfesten Vorhaben. Die bewußte und planvolle Nutzung einer möglichen Irrtumssituation gestattet ein Lernen ohne hohe Schadenskosten.

Was folgt hieraus für die Euro- und die Asylpolitik? Erstens führen die Krisenreaktionen zu einer Entgrenzung und zu einer Vergemeinschaftung durch Kostenabwälzung, die einen Kontrollverlust bewirken. Rechtliche Festungen des Haftungsausschlusses für andere Euroländer und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung werden geschleift. Eine Sozialisierung der Haftung für nationales Politikhandeln findet über die Rettungsfonds, die Geldschwemme der EZB, den Banken- und Einlagensicherungsfonds, über verkappte Eurobonds sowie die diskutierte EU-Arbeitslosenversicherung statt. Fehlhandeln wird nicht bestraft, sondern durch Kostenübernahme belohnt. In der Flüchtlingspolitik entsteht die Entgrenzung durch den mangelnden Schutz der Außengrenzen.

Das Schengen-Abkommen sowie Regelungen für die Asylaufnahme und die Abschiebung sind de facto außer Kraft gesetzt. Die Pervertierung des Asylrechts zu einem tatsächlichen Bleiberecht im Land eigener Wahl führt in Verbindung mit der Ablehnung von Aufnahmeobergrenzen zu einem Kontrollverlust mit ungewissem Ausgang. Selbst begrenzte Experimente zwecks Gewinnung von Erfahrungen werden abgelehnt. Der Euroraum beruht auf einer Zwangsmitgliedschaft, die lediglich die Erweiterung um neue Mitglieder zuläßt, jedoch keine Sonderwege wie nationale Parallelwährungen. In der Flüchtlingspolitik werden weder ein Zuwanderungsstopp noch Transitzonen erprobt.

Zweitens kennzeichnen beide Krisen, daß keine Notfalllösungen oder ein Austritt vorgesehen sind. Als unwiderrufliche Rechtsgemeinschaft ist ein Austritt aus der Eurozone nicht geregelt, und die Rechtsgrundlagen für die Rettungsfonds mußten nachträglich geschaffen werden. Auch bei mehr als einer Million Flüchtlingen 2016 wird eine Suspendierung des Asylrechts bzw. der Genfer Flüchtlingskonvention für unmöglich erachtet. Eine Feststellung des „Staatsnotstandes“ für eine entsprechende Abkehr wurde bislang nicht diskutiert.

Daraus folgt: Solidarität, verstanden als die Vergemeinschaftung von Fehlerkosten, erzeugt in Verbindung mit einer Entgrenzung die Gefahr einer Fehlerkatastrophe. Nicht die Abschottung, wohl aber eine Begrenzung und Kontrolle des Experiments mit Ausstiegsoptionen können existenzgefährdenden Krisen vorbeugen. Daher sind die Asselborn-Thesen mit Vorsicht zu genießen.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. 2012 veröffentlichte er sein Buch „Euro-Krise. Austritt als Lösung?“ und den Sammelband „Die Zukunft der Währungsunion. Chancen und Risiken des Euro“.