© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Pankraz,
W. Humboldt und der pädagogische Eros

Das digitale Zeitalter will nun auch an den Universitäten mit aller Kraft Einzug halten. Rektorate und Institutsleitungen verwandeln sich rasant in Programmier-Anstalten, wo Vorlesungen in „algorithmisch optimierte“ Onlinetexte umgewandelt werden, die die Studenten dann per Code-Eingabe abrufen können, ob nun im Hörsaal oder zu Hause im eigenen Arbeitszimmer. Seminargespräche alten Stils gibt es kaum noch, sie weichen digitalen Frage-Antwort-Spielen, die man ebenfalls außerhalb universitärer Räumlichkeiten am eigenen Laptop absolvieren kann.

Alles läuft sichtbarlich auf die Abschaffung des „subjektiven Faktors“ hinaus. Dozenten werden nicht mehr gebraucht, sie werden ersetzt durch Algorithmen-Firmen, die sich nicht mehr irren, sondern höchstens einmal „ausfallen“, nämlich vom Kabel rutschen können, was sich schnell reparieren läßt. Die Professoren finden nun mehr Zeit zum Verfassen ihrer „Studien“, wofür sich in verstärktem Maß sogenannte Drittmittel von der Industrie oder von staatlichen Stellen einwerben lassen. Die finanzielle Lage von Universität und Institut verbessert sich sichtbar, freilich auch ihre Abhängigkeit von den Drittmittelgebern.

„Wes Geld ich krieg, des Lied ich sing“, sagt das Sprichwort. Es stimmt natürlich: Wissen ist überwiegend praktisches Wissen, man eignet es sich an, um später damit im Leben voranzukommen; insofern ziehen Universität und Industrie an einem Strang. Beide wollen den jungen Menschen fürs Leben fit machen, und sie müssen dabei eng zusammenarbeiten. Doch alles hat seine Grenzen, und so auch die Zusammenarbeit von Industrie und Wissenschaft. Die Wissenschaft steht stets auf der Seite des Lernenden, sollte es  zumindest, während die Industrie immer nur auf einer einzigen Seite steht: der eigenen.


Wenn das Lernen digitalisiert wird“, schrieb neulich die Süddeutsche Zeitung, „bedeutet das auch, daß viele Daten entstehen. Nicht nur die Online-Studenten lernen, sondern auch Unternehmen wie Coursera, die die Inhalte professionell abrufbar ins Netz stellen und die Studenten betreuen. Sie lernen viel über ihre Nutzer: Wer lernt was? Wer lernt wieviel? Wer lernt schnell, wer langsam? Was sind die Fähigkeiten einzelner Studenten? Wo versagt jemand komplett? (…) Diese Daten der Studenten lassen sich verkaufen, zum Beispiel an Arbeitgeber, die wissen möchten, wie sich ein Bewerber im Studium geschlagen hat.“

Früher bekamen Universitätsabgänger Eignungszertifikate, Doktor- oder Magistertitel, deren Glaubwürdigkeit sich einzig dem Urteil ihrer Lehrer verdankte, welches wiederum das Resultat langjährigen intensiven, wahrhaft existenzhaltigen Zusammenseins von Lehrer und Schüler war, des „pädagogischen Eros“, wie Platon es genannt hat. All die von der Süddeutschen angetippten Fragen (Was hat er gelernt? Was sind seine Fähigkeiten? Was ist er für ein Charakter?) – all das kulminierte überzeugend in dem Urteil des Lehrers, der damit ja nicht nur den Ruf des Schülers, sondern auch seinen eigenen zur Disposition stellte. 

So also entstanden Geistesschulen – Wissenstraditionen, auf denen sich aufbauen ließ, große Werke und packende, erhellende Diskussionen. Jetzt nun im digitalen Zeitalter soll und wird das alles den Bach hinuntergehen. Kein Politiker oder Industriekapitän interessiert sich mehr für individuelle, vom algorithmisierten Mainstream abweichende Werke. Die überall so hektisch in Gang gesetzte Update-Huberei à la Silicon Valley entpuppt sich immer mehr als blindes Herumgestochere im Datenbrei, wobei man „rein zufällig“ auch einmal auf ein schnell zu verwertendes Profit-Ei zu stoßen hofft.

Man muß kein „Kulturpessimist“ sein, um hier schwarzzusehen und sich wenigstens Überreste von pädagogischem Eros zurückzuwünschen. Sicherlich, auch ein Großteil des an der Universität vermittelten Wissens ist Grundwissen, das man einfach „pauken“ muß, besonders in Weltgegenden, wo die Primärschulen derart heruntergekommen sind, daß man den Studienanfängern zunächst einmal beibringen muß, was studieren überhaupt heißt. Doch  gerade dazu bräuchte man keine Online-Automaten, sondern lebendiges Lehrpersonal, leidenschaftlich engagierte Pädagogen – die es in der Regel gar nicht mehr gibt.


Angesichts des allerorten waltenden Massenbetriebs finden Lehrer und Schüler gar nicht mehr die Gelegenheit, sich wahrhaft zu begegnen. Das von Platon bis Wilhelm von Humboldt von allen guten Lehrern markierte Ziel des pädagogischen Eros, den Schüler so bald als möglich „auf kollegiale Höhen zu heben“, um zusammen mit ihm im freien Dialog die jeweilige Problematik durchsichtig und operabel zu machen, es verschwindet im Dienst von Zeitgeistphrasen und kurzbeinigster „aktueller Bedürfnisse“. Der Forschungshorizont wird immer niedriger, die Forschungsfreiheit immer mehr beschränkt.

Im selben Takt aber wachsen die Möglichkeiten zur digitalen Umgestaltung des Lehrbetriebs, genau wie es Tom Stoppard kürzlich in seiner Komödie „The Hard Problem“ dargestellt hat. Immer mehr Professoren verwandeln ihre Institute in frei schaffende Unternehmen im Stile jenes in der Süddeutschen erwähnten „Coursera“, und statt um Erkenntnisgewinn geht es nur noch um Spekulationsgewinne. Seine Lieblingsschüler indessen sucht sich der Professor nur noch danach aus, inwieweit sie in der Lage sind, die Höhe der Gewinne mathematisch exakt vorauszuberechnen.

Noch Wilhelm von Humboldt, der große Lebenspraktiker und Universitätsreformer des alten Preußen, wußte es besser und kam darüber (in einem Brief an eine Freundin) sogar ins Dichten: „Es kann der Mann der Wissenschaft / Fürwahr ein Egoist nicht sein …“ Heute würde man vielerorts wohl anders dichten; „Es kann der Mann der Wissenschaft / Fürwahr ein Egoist nur sein!“ Solche Überzeugung führt, davon ist Pankraz überzeugt, in lebensbedrohliche Sterilität und Einfallslosigkeit. Es muß aber nicht so bleiben. Dir Hoffnung stirbt zuletzt.