© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

„Die Regierung handelt rechtswidrig“
Welche Verantwortung hat die Politik tatsächlich für die Übergriffe in der Domstadt? Fragen an den Kölner Staatsrechtler Ulrich Vosgerau
Moritz Schwarz

Herr Dr. Vosgerau, trägt die Politik eine rechtliche Verantwortung für die Ereignisse von Köln?

Vosgerau: Ich meine, ja. 

Inwiefern?

Vosgerau: Es scheint sich ja bestätigt zu haben, daß auch sogenannte Flüchtlinge an den Taten beteiligt waren. Leute, die eigentlich nicht im Land sein dürften.

Warum nicht?

Vosgerau: Weil seit dem Asylkompromiß von 1993 – laut Artikel 16a des Grundgesetzes – niemand, der aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen will, asylberechtigt ist. 

Aber gilt das noch, seit die Kanzlerin im Herbst nun einmal anders entschieden hat? 

Vosgerau: Natürlich, und Paragraph 18 des Asylgesetzes konkretisiert dies sogar: Danach dürfen die Grenzbehörden solche Asylsuchende nicht nur abweisen – sie müssen dies sogar! Die Regierung handelt also seit geraumer Zeit rechtswidrig. Entsteht daraus Schaden, gibt es also auch eine rechtliche Verantwortung.

Welche Handhabe hat der Bürger, die Regierung rechtlich zur Verantwortung zu ziehen?

Vosgerau: Eine gute Frage. Ich befürchte aber, keine. 

Wie kann das sein?

Vosgerau: Erstens müßte es gelingen, einer Person, die von der Bundesregierung widerrechtlich ins Land gelassen worden ist, eine der in Köln begangenen Straftaten nachzuweisen. Zweitens, ich bezweifle, daß das Opfer, wenn es deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung seiner Grundrechte gegen die Bundesregierung klagt, recht bekommen würde. 

Warum nicht?

Vosgerau: Zwar sind die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Vielmehr verpflichten sie diesen, den Bürger auch vor einer Grundrechtsverletzung durch Dritte zu schützen. Allerdings, gerichtlich erwirken kann der Bürger letzteres in der Regel nicht, da er keinen „allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch“ hat. Er kann den Staat also im allgemeinen nicht zwingen, die Gesetze einzuhalten. Trotz der grundrechtlichen Schutzpflichten besteht auch kein rechtlicher Anspruch, nicht Opfer einer Straftat zu werden. Sonst könnte der Bürger den Staat ständig verklagen, denn ein „mehr an Sicherheit“ wäre ja immer möglich. 

Welchen Sinn hat dann die Feststellung, daß die Politik eine rechtliche Verantwortung für Köln trägt?

Vosgerau: Sollte sich, wie gesagt, in einem der Kölner Fälle nachweisen lassen, daß der oder die Täter erst in jüngerer Zeit entgegen der klaren Regel aus Paragraph 18 des Asylgesetzes etwa über die österreichische Grenze gelassen worden sind, so käme ein Staatshaftungsanspruch ihrer späteren Opfer gegen die Bundesrepublik in Betracht – und zwar nach Artikel 34 Grundgesetz, beziehungsweise Paragraph 839 BGB. Voraussetzung wäre lediglich, daß die Gerichte Paragraph 18 des Asylgesetzes als „drittschützende Norm“ ansehen – die also nicht nur den Interessen des Staates dient, sondern außerdem auch noch die Bürger vor möglichen Straftaten unkontrolliert einwandernder Ausländer schützen soll. Dies würde ich bejahen.

Ist das in der Praxis realistisch?

Vosgerau: Das ist die entscheidende Frage. Denn ich befürchte, daß im Fall Köln wahrscheinlich niemand verurteilt werden wird – mangels gerichtsfestem Nachweis einer bestimmten Tatbeteiligung. Dennoch halte ich eine Debatte über die Verantwortung der Politik für wichtig. Denn diese versucht derzeit den Eindruck zu erwecken, die Verantwortung läge bei der Polizei – Stichwort Entlassung des Kölner Polizeipräsidenten. Das aber ist falsch. Letztverantwortlich ist die Politik, die seit Monaten die Gesetze bricht! Und man fragt sich, warum der Bundestag nicht wenigstens die Gesetze anpaßt, um die Rechtswidrigkeit des Regierungshandelns zu beenden.

Fragt man sich nicht eher, warum der Bundestag nichts unternimmt, um das rechtswidrige Regierungshandeln zu beenden?

Vosgerau: Richtig, eigentlich müßte er sich wehren, das Regierungshandeln öffentlich mißbilligen, notfalls einen neuen Kanzlerkandidaten für ein konstruktives Mißtrauensvotum suchen.

Warum tut er das nicht?

Vosgerau: Meine Vermutung ist, würde Deutschland seine Grenzen schließen, müßten das auch die Nachbarstaaten tun, weil sich sonst bei ihnen die Flüchtlinge stauen. Das aber wäre das Ende des Schengen-Systems. Und das ist politisch nicht gewollt.   

Warum kann nicht statt dessen der Bürger in Karlsruhe klagen?

Vosgerau: Zwar kann jeder Bürger Verfassungsbeschwerde erheben, aber nur dann, wenn er selbst unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt ist. Hier bräuchte es ein Viertel der Mitglieder des Bundestages oder ein Bundesland. Denn nur diese sind auch klagebefugt, wenn es nicht um die Verletzung von Grundrechten, sondern um eine sonstige Verletzung des Grundgesetzes durch die Bundesregierung geht.

Die CSU hat die Entscheidung der Kanzlerin als rechtswidrig benannt. Warum klagt also das Land Bayern nicht?

Vosgerau: Das fragen Sie mal Herrn Seehofer. 

Was folgt daraus? Leben wir also nicht mehr in einem Rechtsstaat?

Vosgerau: Doch, denn das rechtswidrige Regierungshandeln in der Asylfrage berührt nicht unmittelbar die Wahrung der Grundrechte des Bürgers, der ja weiterhin bei den Gerichten Schutz findet. Der Rechtsstaat ist also intakt. Was dagegen nicht mehr vollständig intakt ist, ist der Verfassungsstaat, da die Regierung, zumindest in der Asylfrage, die Bindung an die Verfassung und die Bundesgesetze aufgegeben hat. 

Das bedeutet?

Vosgerau: Das bedeutet aus verfassungsrechtlicher Sicht einen höchst alarmierenden Zustand, wie wir ihn uns früher in Deutschland nicht vorstellen konnten. Obgleich das Phänomen nicht gänzlich neu ist. So war auch schon das erste Griechenland-Rettungspaket der Regierung eindeutig rechtswidrig. Damals hieß es immerhin noch, es handele sich um einen einmaligen Sonderfall, der sich keinesfalls wiederholen werde. Das galt allerdings gerade mal bis zum nächsten Rettungspaket. Mindestens seit dem Jahr 2010 sind wir also auf einer schiefen Ebene. 

Man hat sich immer vorgestellt, nach 1945 würden die Deutschen massenhaft auf die Straße gehen, wenn ihr Verfassungsstaat erneut ausgehöhlt wird. 

Vosgerau: Ja, tatsächlich aber bleibt es weitgehend ruhig. Das ist in der Tat schwer begreiflich. 

Gemeinhin gilt, Demokratien unterscheiden sich von Diktaturen nicht dadurch, daß ihre Regierungen nicht die Gesetze verletzten, sondern daß ihre Regierungen dafür sanktioniert werden. Genau das passiert aber nicht. 

Vosgerau: Richtig, und die Folge ist, daß sich die Regierung nicht mehr fragt, was verfassungsrechtlich noch erlaubt ist, sondern was die Massenmedien noch mitmachen. Stützen diese ein verfassungswidriges Regierungshandeln, wie das in der Asylkrise ja ganz überwiegend der Fall ist, dann wird eben weitergemacht. Das war und ist bei der Griechenland-Rettung ja schon ähnlich.

Das Grundgesetz enthält bekanntlich einen Widerstandartikel. Sind die Voraussetzungen für diesen inzwischen gegeben?

Vosgerau: Nein. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes ist fürwahr rätselhaft: Nach vorherrschender Juristenmeinung ist es funktionslos.

Bitte?

Vosgerau: Ja, und zwar weil es eigentlich nie zur Anwendung kommen kann. Denn Voraussetzung dafür ist, daß die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bereits erfolgreich war. Schließlich heißt es im Widerstandsartikel, dieser habe erst Gültigkeit, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Das heißt: Solange Teile der Ordnung noch bestehen, ist Widerstand auf Grund des Widerstandsartikels nicht erlaubt, da das Kriterium „keine andere Abhilfe“ noch nicht erfüllt ist. Ist dieser Punkt schließlich erfüllt – ist die Ordnung also weithin beseitigt –, ist Widerstand zwar rechtlich erlaubt, dürfte aber praktisch nicht mehr möglich sein. 

Demnach wäre der Widerstandsartikel Roßtäuschung?

Vosgerau: Nach herrschender Meinung ist er eine gesetzgeberische Fehlleistung. 

Das sieht der Jurist Thor von Waldstein anders.

Vosgerau: In dessen Gutachten zum Widerstandsrecht stehen zwar einige gute und richtige Dinge, aber auch viel rundweg Falsches – ich kann unterm Strich nur davor warnen.

Allerdings betrachten auch Sie und der Staatsrechtler Dietrich Murswiek das Widerstandsrecht keineswegs als völlig „funktionslos“. 

Vosgerau: Artikel 93 des Grundgesetzes stellt klar, daß das Widerstandsrecht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann. Aus Sicht der herrschenden Meinung ist das unbegreiflich, weil ja im „Widerstandsfall“ das Bundesverfassungsgericht gar nicht mehr arbeiten dürfte. Nun argumentieren Murswiek und ich: die Bedeutung des Widerstandsrechts liegt in seiner „Vorfeldwirkung“. Jeder Bürger kann die Verfassungsbeschwerde gegen staatliches Handeln erheben, das bei seiner Fortsetzung und Vollendung irgendwann auf den „Widerstandsfall“ hinausläuft. Insofern müßte auch die massive staatliche Förderung illegaler Masseneinwanderung als Beschwerdegegenstand in Betracht kommen. Leider hat jedoch das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unsere Rechtsauffassung zurückgewiesen. 

Warum?

Vosgerau: Das würde mich auch interessieren, leider gab es keine Begründung.

Sie haben die Asylpolitik der Kanzlerin in einem Beitrag für den „Cicero“ sogar als „Putsch“ bezeichnet. Und dennoch greift das Widerstandsrecht nicht? 

Vosgerau: Weil die Verfassungsorgane, die der Regierung in den Arm fallen könnten, alle intakt sind. Ebenso wie die Rechte der Bürger, etwa das Recht, die Regierung abzuwählen. Daß die Organe des Staates nicht handeln, ist eine andere Frage. Mit anderen Worten, trotz Merkels Putsch – aus verfassungsrechtlicher Sicht –, ist unsere grundrechtliche Ordnung weiter funktionsfähig. Es liegt also am Bürger, widerrechtliches Regierungshandeln bei nächster Gelegenheit durch sein Wahlrecht zu korrigieren.






Dr. Ulrich Vosgerau, der habilitierte Staats- und Europarechtler und Fachmann für Öffentliches Recht ist Privatdozent an der Universität Köln. Geboren wurde er 1974 in Pinneberg.

Foto: Protestierende Bürger am 5. Januar in Köln: „Die Politik versucht den Eindruck zu erwecken, die Verantwortung läge bei der Polizei. Das ist falsch. Letztverantwortlich ist die Politik, die seit Monaten die Gesetze bricht!“

 

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