© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Abtreibung als Zwangsexport
Schwangerschaftsabbruch: Durch finanziellen und politischen Druck sollen den Staaten Lateinamerikas liberale Abtreibungsregelungen aufgezwungen werden
Lukas Noll

Lunacek, Estrela, Tarabella, Noichl: Die Liste der „Berichte“, die der Europäischen Union eine gemeinsame Gender- Mainstreaming-Agenda aufoktroyieren wollen, wird Jahr um Jahr länger. Steter Tropfen scheint auch hier den Stein zu höhlen: Mit Ausnahme von Estrela (JF 51/13) nahm das EU-Parlament alle Berichte mit klarer Mehrheit an. Doch neben der Aufregung über frühkindliche Sexualerziehung und Sprachregelungen wird oft ein allen Berichten gemeiner Aspekt vergessen: eine verstreut immer wieder hervortretende „reproduktive Gesundheit“. Was sich wie ein medizinischer Fachterminus anhört, ist im Grunde schnell auf den Punkt gebracht: legale und sichere Abtreibungen – und das möglichst auf der ganzen Welt. 

Abtreibungen nämlich will Europas Linke längst nicht nur auf dem eigenen Kontinent durchsetzen. Zwar geraten Länder mit strengen Abtreibungsregelungen wie Malta, Polen oder Irland immer wieder ins Visier europäischer Gleichstellungspolitik. Doch der Fokus richtet sich längst auf Länder, die der Abtreibungsagenda aus Brüssel und Straßburg schon aus finanzieller Abhängigkeit  weniger selbstbewußt entgegentreten: Entwicklungs- und Schwellenländer. Besonders die katholisch geprägten Länder Lateinamerikas sind dabei in den vergangenen Jahren immer wieder in Berührung mit einem regelrechten Interventionismus gekommen, der die europäische Abtreibungsagenda auch in anderen Teilen der Welt implantieren will.

Entwicklungspolitik soll Druck erhöhen 

Am anschaulichsten durfte dies das mittelamerikanische Nicaragua im Jahr 2007 erfahren. Nachdem das nicaraguanische Parlament einstimmig das Verbot jedweder Abtreibungen beschlossen hatte, war die Wut in Europa groß. Besonders deutlich wurde Bert Koenders, damaliger niederländischer Minister für Entwicklungszusammenarbeit, vor den Vereinten Nationen (UN): „Wir sollten betonen, daß das vollkommen unannehmbar ist“, wetterte der holländische Sozialdemokrat – und drohte sogleich: „Ich möchte unsere Hilfe für Nicaragua nicht umgehend entziehen; wir werden diesen Schritt allerdings sicherlich in Betracht ziehen.“ 

Koenders Worte sorgten für einen Eklat. Die Regierung von Nicaragua erklärte sich „massivem Druck seitens der Abtreibungsbefürworter weltweit“ ausgesetzt. Das Europäische Parlament bemühte sich um Schadensbegrenzung. Die Niederlande reflektierten mit Sicherheit nicht die „Position der Europäischen Union in dieser Materie“, äußerte etwa der konservative britische EU-Parlamentarier Nirj Deva. 

Doch genau das lassen die breiten Parlamentsmehrheiten für Dokumente wie den Noichl-Bericht vom Juni 2015 bei einer genaueren Betrachtung bezweifeln. Die europäische Entwicklungszusammenarbeit solle einem auf den allgemeinen Menschenrechten basierenden Ansatz folgen, heißt es dort zwar zunächst wenig kontrovers. Doch schon im nächsten Satz erläutert die Initiatorin Maria Noichl (SPD), was sie unter Menschenrechten versteht. „Universeller Zugang zu Gesundheit, im speziellen sexueller und reproduktiver Gesundheit, und den damit verbundenen Rechten, ist ein fundamentales Menschenrecht“, heißt es in dem Bericht. Gewährleistet werden müsse der „freiwillige Zugang zu Familienplanungsdiensten, inklusive sicherer und legaler Abtreibungen.“?

Parallel dazu forderten die Fraktionen der Grünen, Liberalen, Sozialisten und Sozialdemokraten sowie Nigel Farages Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ den Europäischen Rat auf, das Thema der „sicheren und legalen Abtreibung in die EU-Leitlinien über Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufzunehmen“. 

Umwertung der Werte ist im vollen Gang  

Eine ähnliche Stoßrichtung offenbart  ein Strategiepapier der britischen Regierung, das im vergangenen Jahr erstellt wurde, nachdem die europäische Bürgerinitiative „One of us“ über 1,8 Millionen Unterschriften gegen den Einsatz von EU-Geldern für Abtreibung und Embryonalforschung gesammelt hatte. „Dieser Vorschlag würde nicht nur die Mittel für Organisationen zur Förderung sicherer Abtreibungen begrenzen, sondern aller Organisationen, die Abtreibungen bezahlen“, heißt es in dem Schreiben zwischen den britischen Ministerien für Forschung und Gesundheit. „Organisationen, die den Armen der Welt eine große Bandbreite an Gesundheitsdienstleistungen anbieten, würden keine finanzielle Unterstützung der EU bekommen, wenn auch Abtreibungen Teil ihrer Dienstleistungen sind.“ Wörtlich warnt das Schreiben vor „Verzögerungen bei lebensrettenden Operationen in Entwicklungsländern.“

Es ist diese Umwertung der Werte, die das bioethisch kontrovers diskutierte Abtreibungsthema zum Menschenrecht erklärt und ausgerechnet das Verbot vorgeburtlicher Tötungen als lebensgefährlich darstellt. Zumeist wird dabei mit einer angeblich erhöhten Müttersterblichkeit durch Abtreibungsverbote argumentiert, wobei den weltweit jährlich zwischen 45 und 50 Millionen Abtreibungen geschätzte 47.000 mütterliche Todesfälle durch illegale Abtreibungen gegenübergestellt werden. 

Eine Sichtweise, die immer stärker auch Einzug in die offizielle Politik der Europäischen Union hält: So stimmten im März 2015 441 EU-Parlamentarier für den „Tarabella-Bericht“, der für ein „Menschenrecht auf Abtreibung“ wirbt; laut der britischen Regierung wandern jährlich 87 Millionen Euro an EU-Geldern in die Unterstützung „reproduktiver Gesundheit in Entwicklungsländern“. Immer selbstverständlicher wird das quasi neu erschaffene Menschenrecht offensiv gegenüber Mitgliedsstaaten der EU, vor allem aber auch im Umgang mit Schwellen- und Entwicklungsländern eingefordert.

 Staaten wie Chile und El Salvador sind nach dieser Lesart nicht bloß Länder mit restriktiveren Abtreibungsregelungen. Vielmehr werden den Staaten ihre rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz des ungeborenen Lebens als „Menschenrechtsverletzung“ ausgelegt – in der globalisierten Welt eine heikle Angelegenheit. An vorderster Front zeigen sich hierbei ausgerechnet die großen Menschenrechtsorganisationen. 

„Das Unvermögen der peruanischen Regierung, den Zugang zu legalen therapeutischen Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten, stellt eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte dar“, heißt es in einem Bericht von Human Rights Watch. „Einschränkungen des Abtreibungsrechts verletzten die Menschenrechte dadurch, „den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen im In- und Ausland“ zu erschweren, erklärt auch Marianne Møllmann, Advocacy-Direktorin der Abteilung Frauenrechte der Organisation. Im Schulterschluß wissen sich die Aktivisten dabei mit den Kollegen von Amnesty International: „Wir werden weiter dafür kämpfen, daß sichere und legale Abtreibungen vorhanden sowie zugänglich sind und entsprechend professionell durchgeführt werden“, verlautbarte Amnesty 2009, als die Dominikanische Republik ein Abtreibungsverbot in ihrer neuen Verfassung verankerte. 

Auch UN schreiben sich Abtreibung auf die Fahnen

Bereits 2007 hatten sich die Amnesty-Funktionäre auf ihrer Internationalen Ratstagung in Mexiko mit überwältigender Mehrheit dafür ausgesprochen, Schwangerschaftsabbrüche von jeder Strafe freizustellen. Nach Vergewaltigung, Inzest oder einer vorliegenden Lebensgefahr für die Frau solle Abtreibung sogar als „Grundrecht“ eingestuft werden. Auch die UN, die sich die Durchsetzung „reproduktiver Rechte“ seit der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 auf die Fahnen schreiben, halten mit Interventionen nicht hinter dem Berg. El Salvadors Regierung solle Frauen und Ärzte nicht mehr wegen Schwangerschaftsabbruchs verfolgen, forderte 2010 der UN-Menschenrechtsrat. Binnen eines Jahres müsse die Regierung in San Salvador Bericht darüber erstatten, wie sie der Forderung nach einer Gesetzesrevision nachgekommen sei – obwohl ein Abtreibungsverbot seit 1997 in der salvadorianischen Verfassung verankert ist, eine Revision damit verfassungswidrig. Auch Peru wurde von den UN mehrfach dazu ermahnt, „Barrieren zur Durchführung therapeutischer Schwangerschaftsabbrüche zu eliminieren und die verpflichtende Einhaltung von Menschenrechten sicher(zu)stellen“.

Eher selten wagen sich internationale Institutionen allerdings so weit vor, Ländern konkrete Sanktionen anzudrohen, wie es gegenüber den kleinen zentral-

amerikanischen Ländern Nicaragua und El Salvador geschehen ist. Zu dankbar werden derlei Agitationen in der Region aufgenommen, um politischen Profit aus „neokolonialem“ Gebaren zu schlagen. Zumeist sind es stattdessen tragische Einzelschicksale, die herausgegriffen werden, um zum Gegenstand diplomatischer Rügen und Petitionen von Menschenrechtsorganisationen, linken EU-Abgeordneten oder der grünen Heinrich-Böll-Stiftung und deren Ableger, dem Gunda-Werner-Institut, zu werden. 

Ein Beispiel bot jüngst der Fall einer zehnjährigen Paraguayerin, die durch die Vergewaltigung ihres Stiefvaters schwanger wurde. Die wie in den meisten lateinamerikanischen Präsidialrepubliken verantwortliche Regierung lehnte ihren Antrag auf Schwangerschaftsabbruch ab. Wochenlang wurde nicht nur der Einzelfall selbst thematisiert, sondern das gesamte paraguayische Abtreibungsrecht unter internationalen Beschuß genommen, unter anderem von Amnesty International. Kritik mußte auch Chile über sich ergehen lassen lassen: Obwohl das 13jährige Vergewaltigungsopfer Belén vor zwei Jahren gar keine Abtreibung wünschte, wurde Chiles Abtreibungsrecht zum Gegenstand internationalen Drucks, welchen die Bachelet-Regierung nun mit einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts beantworten will. Ausgerechnet das Hauptargument der Abtreibungsglobalisierer widerlegt das Land an Südamerikas Westküste dabei wie ein Paradebeispiel: Chile als eines der sieben Länder mit den strengsten Abtreibungsgesetzen weist eine deutlich niedrigere Müttersterblichkeit auf als die USA. Dort wurden seit dem mit dem „Roe gegen Wade“-Urteil 1973 begründeten „Recht auf Abtreibung“ über fünfzig Millionen Ungeborene abgetrieben.