© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Wachsende Zweifel an der gerechten Sache Englands
H.G. Wells’ Kriegsroman „Mr. Britling Sees It Through“ von 1916: Literatur als Quelle der Zeitgeschichte
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der im September 1916 erschienene Roman „Mr. Britling Sees It Through“ des britischen Erfolgsautors H.G. (Herbert George) Wells, der um eine faire Behandlung des Kriegsgegners bemüht war, bildet eine Ausnahme in dem sich mit Deutschland auseinandersetzenden Schrifttum Englands. 

Er beginnt anläßlich des Eintreffens des amerikanischen Gastes Mr. Direck in Dower House, dem Landhaus Mr. Britlings in Essex, mit einer ausführlichen Schilderung der Bewußtseinslage Englands im Sommer 1914. Während Mr. Britling Gedanken an einen militärischen Konflikt zwischen Deutschland und England selbst im Juli noch ganz fremd sind, kommt ihm gelegentlich Karl Heinrich in den Sinn, der deutsche Hauslehrer seiner beiden jüngeren Söhne. Mit dessen Einführung wird der den Roman prägende deutsch-englische Dialog in Gang gesetzt. 

In dem Porträt dieses sympathischen, in Dower  House wohlgelittenen Philologiestudenten hat Wells fast sämtliche stereotypen englischen Vorstellungen in bezug auf Deutschland gebündelt; für imagologisch Interessierte stellt der Roman eine wahre Fundgrube dar. Für unsere zeitgeschichtlich ausgerichtete Analyse genügt die Feststellung, daß Herr Heinrich ein janusköpfiges Gesicht besitzt. In erster Linie als Verkörperung des idealistischen Deutschland konzipiert  – sein Aufzug ist der eines romantischen Wanderburschen mit kosmopolitischer Einstellung –, hat er zugleich preußische Tugenden wie Disziplin und Pflichtbewußtsein verinnerlicht.

Bildet Mr. Britling als Alter ego des Autors das Orientierungszentrum des Lesers, so fungiert der Bilderbuchdeutsche Herr Heinrich als Katalysator für den enge insulare Vorurteile abstreifenden Bewußtseinsprozeß Mr. Britlings. Nach Einsetzen der Kriegshandlungen bekräftigt Mr. Britling, für den Krupp und Kaiser zu Symbolen deutscher Schuld werden, zunächst die von der offiziellen britischen Propaganda vorgegebene These von der Aggressivität Preußen-Deutschlands, das gegenüber dem stellvertretend als künftiger Partner umworbenen Amerikaner Mr. Direck angeschwärzt werden soll.

Doch Mr. Britling läßt wohlfeile Propagandaparolen bald weit hinter sich und beginnt an seinem anfänglich so eindeutigen Kriegsbild zunehmend zu zweifeln. So richtet sich an die englische Adresse der Vorwurf, daß Haßpropaganda als Korrektiv für ungenügende nationale Leistungsfähigkeit herhalte. Angesichts des sich gegen eine gewaltige Übermacht behauptenden Deutschland  zollt er diesem Respekt und entlarvt das ebenso unrealistische wie grobschlächtige Propagandaklischee einer Spaltung in ein idealistisches und ein materialistisch-militärisches Deutschland als falsch. 

Sein Blick über den engen nationalen Horizont hinaus läßt ihn immer mehr an der absoluten Gerechtigkeit der englischen Sache zweifeln und die selbstkritische Frage stellen: „Were we indeed standing against tyranny for freedom?“ Mr. Britlings Zurückweisung der kruden, die Heimatfront zusammenhaltenden Antithese eines Kampfes zwischen Tyrannei und Freiheit signalisiert sein Umdenken.

Als Mr. Britling die Nachricht vom Tode seines Sohnes Hugh erhält, begreift er unter dem Eindruck dieses persönlichen Verlustes den Krieg selber als das eigentlich Böse, dem beide Seiten ausgeliefert sind. Er nimmt jetzt seine Weltstaatspläne wieder auf, die auch der kulturellen und zivilisatorischen Bedeutung Deutschlands Rechnung tragen sollen. Nach der Nachricht vom Tode Herrn Heinrichs schreibt Mr. Britling einen versöhnlichen Brief an dessen Eltern; in ihm ist nur noch von einer Hauptschuld, aber nicht mehr von einer Alleinschuld Deutschlands am Kriegsausbruch die Rede. Somit spricht Mr. Britling ein befreiendes Wort, das einem latenten Wunsch nach einem Verständigungsfrieden gleichkommt.

Das Ende von Mr. Britlings Schreiben an die Eltern des früheren Tutors macht diesen Brief nicht nur zu einem menschlich bewegenden Dokument, sondern setzt darüber hinaus einen bemerkenswerten politischen Akzent, der Wells’ Infragestellung englischer Selbstgerechtigkeit pointiert abschließt: „You are as little responsible for that Germany as I am for – Sir Edward Grey“! Die aufhorchen lassende Nennung des noch amtierenden britischen Außenministers artikuliert per Abbreviatur Wells’ tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber Greys Politik und ist historiographisch präzise verortbar. Wells hatte Grey in dem um die Jahrhundertwende gegründeten politischen Debattierklub der Coefficients kennengelernt und den denkbar ungünstigsten Eindruck von dem Deutschland schon als Oppositionspolitiker ablehnend gegenüberstehenden führenden Repräsentanten der Liberal Imperialists gewonnen. In seiner Autobiographie „ Experiment in Autobiography“ (1934) bezichtigt er Grey, sich gegenüber Deutschland in der Frage etwaigen britischen Eingreifens bewußt doppeldeutig verhalten zu haben, und klagt ihn an, den Krieg gewollt zu haben: „I think he wanted  the war and I think he wanted it to come when it did“. In dieser Äußerung Mr. Britlings wird Grey gewissermaßen schon vor den Richterstuhl der Geschichte zitiert.

Außenminister Edward Grey war Hauptverantwortlicher

Wells’ frühe negative Einschätzung des in der deutschen Forschung meist noch mit Glacéhandschuhen angefaßten Leiters der britischen Außenpolitik haben sowohl politische Akteure als auch Historiker bestätigt. Der Tenor von Lloyd Georges inkriminierender Bemerkung, daß Grey einer der beiden Hauptverantwortlichen für den Krieg war, ist von der neuesten angelsächsischen Historiographie in einer ganzen Reihe von  Studien, insbesondere denjenigen von D. Newton, G. Docherty/J. Macgregor und J.P. Cafferky, verstärkt worden. Auch Christopher Clarks verhaltener geübte Kritik in seinem Buch „The Sleepwalkers“ (2012), das in Deutschland auf große Resonanz gestoßen ist, belastet Grey durchaus. Mr. Britlings den kritischen I-Punkt setzender Verweis auf die unheilvolle Rolle Sir Edward Greys verrät Wells’ politisches Gespür und zeigt, welche zeitgeschichtliche Transparenz  diesem Roman innewohnt.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Anthony Trollope (JF 18/15).

Foto: H.G. Wells, Foto um 1925: Haßpropaganda müsse in England als Korrektiv für ungenügende nationale Leistungsfähigkeit herhalten