© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Bedrohte staatliche Ordnung
Flüchtlingspolitik: Ehemalige Verfassungsrichter geißeln massiven Rechtsbruch Berlins
Heiko Urbanzyk

Sowohl der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, als auch sein damaliger Kollege Udo Di Fabio erschüttern durch aktuelle Äußerungen zur Flüchtlingspolitik die Integrität der Bundesregierung. Während Papier in einem Handelsblatt-Gespräch bereits bestehende „rechtsfreie Räume bei der Sicherung der Außengrenzen“ sieht, erkennt Di Fabio in einem Rechtsgutachten,  daß die „Politik der offenen Grenzen“ sogar die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. 

Letztlich dreht sich das Problem um zwei Streitpunkte, die über die künftige Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland existentiell entscheiden: Wer ist für Grenzschließungen und Grenzkontrollen zuständig, und ist staats- und verfassungsrechtlich die Bestimmung von Obergrenzen für sogenannte Schutzsuchende tragbar? 

Recht und Wirklichkeit klaffen weit auseinander 

Papier, CSU-Mitglied und Verfassungsrichter bis 2010, sieht in der aktuellen Politik Angela Merkels „eine Bedrohung der staatlichen Integrität“. Die Flüchtlingskrise offenbare ein „eklatantes Politikversagen“: „Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie jetzt. Das ist auf Dauer inakzeptabel.“ Di Fabio legt nach und sieht die gesetzliche Pflicht zur wirksamen Grenzkontrolle „bis dato anhaltend zusammengebrochen“. Die Bundesländer würden sich dadurch „mit einer beträchtlichen Krisensituation bis hin zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung konfrontiert sehen“.   

Was aber tun, wenn eine Regierung, die zur Zeit allenfalls bei bevorstehenden Landtagswahlen symbolisch abgestraft werden kann, die staatlichen Grenzen preisgegeben hat und Asyl- und Strafgesetze nicht mehr vollzogen werden? Der Gang nach Karlsruhe liegt nahe. Papier allerdings erkennt „keine Grundlage“ dafür, daß ein Eingreifen der Bundesregierung beim Grenzschutz vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einklagbar sei. 

Di Fabio, auf CDU-Vorschlag Grundgesetzhüter bis 2011, sieht das anders. Im Gutachten „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“, das der Bonner Professor im Auftrag der Bayerischen Staatskanzlei erstellte, bescheinigt er einem möglichen Vorgehen des Landes Bayern gegen die Bundesregierung Aussicht auf Erfolg. In einem sogenannten, im Art. 92 Absatz 3 Grundgesetz verankerten, Bund-Länder-Streit könne das Land Bayern durch das BVerfG eine „grundsätzliche Handlungspflicht feststellen“ lassen. „Der Bund ist aus verfassungsrechtlichen Gründen […] nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wiederaufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist.“ Es weht ein Hauch zweites Semester Jurastudium durch das Gutachten, wenn der Sohn italienischer Einwanderer die sogenannten Sachurteilsvoraussetzungen des Bund-Länder-Streites durchexerziert. Die Klage wäre seiner Ansicht nach zulässig. Aber auch begründet?

Wie läßt sich begründen, daß die Länder Ansprüche an den Bund stellen können, eine wirksame Grenzkontrolle zu gewährleisten? Di Fabio betont die föderale Schicksalsgemeinschaft von Bund und Ländern. Untechnisch gesagt: Die Länder, die selbst souveräne Staaten sind, formen territorial und in komplizierter gesetzestechnischer und parlamentarischer Verstrickung die Bundesrepublik Deutschland. Die Länder ordnen sich dort, wo das Grundgesetz dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zuschreibt, dem Bundesrecht freiwillig unter. Sie führen diese Gesetze sogar überwiegend durch Landesbehörden aus. Zu solchen Gesetzen gehören das Strafrecht, das Asylgesetz und das Aufenthaltsgesetz, aber auch das Sozialrecht nach den Sozialgesetzbüchern. Auf diesen Gebieten wird Bundesrecht durch die Länder exekutiert. 

Hier setzt Di Fabios Kritik an: „Das gesamte Einreise-, Ausländer- und Asylrecht ressortiert beim Bund, er beherrscht mit seiner Kompetenz die Staatsgrenze. Die Aufnahme, Unterbringung, Versorgung, besonders Gesundheitsversorgung, die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, einschließlich der Strafverfolgung, die soziale Integration, zusätzlich Bildungs- und Betreuungsangebote, aber auch ausländerrechtliche Maßnahmen wie die Abschiebung“ blieben gemäß Artikel 30 und 83 Grundgesetz in der Länderkompetenz. 

Grob vereinfacht festgehalten funktioniert dieses System nur, wenn sich jedes Glied der Kette daran hält, seine ihm zugewiesenen Aufgaben zuverlässig, das heißt vor allem gesetzmäßig auszuführen. Der Bund macht nun aber die Grenzen auf, und die Länder müssen sehen, wie sie klarkommen. Am Ende steht letztlich nichts anderes als die Gefahr des staatlichen Zusammenbruchs. Die Länder dürften nicht einmal, wenn sie wollten, zum Selbstschutz ihre Landespolizei zum Grenzschutz einsetzen, wenn der Bund sich unfähig bzw. unwillig zeigt. Zur Wahrung ihrer Eigenstaatlichkeit sind die Bundesländer also darauf angewiesen, daß der Bund, der von der Bundesregierung geführt wird, seinen Pflichten nachkommt. 

Zu diesen Pflichten gehört laut Di Fabio jedenfalls nicht die schrankenlose Aufnahme von sogenannten Schutzsuchenden aus aller Welt: „Der Bund hat im Rahmen seiner Kompetenzen dafür Sorge zu tragen, daß elementare Gefährdungen für den Bundesbestand unterbleiben und wirksam abgewehrt werden.“ Dem könne nicht entgegengehalten werden, die Bundesregierung sei zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Absatz 1 Grundgesetz pauschal verpflichtet, die Grenzen zu öffnen. Das Grundgesetz setze die Beherrschbarkeit der Staatsgrenzen und die Kontrolle über die auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen voraus. Hingegen verlange das Grundgesetz „nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis“. Grenzöffnungen und die Ablehnung einer Obergrenze ließen sich ebensowenig europa- oder völkerrechtlich herleiten. Die Europäische Menschenrechtskonvention verleihe „kein Menschenrecht auf ungehinderte Einreise“ und sehe keine Pflicht zur unbegrenzten Aufnahme vertriebener und heimatlos gewordener Menschen vor. Im Gegenteil dürfe die Bundesrepublik völkerrechtlichen Vertragswerken mit solchen Regelungen nicht einmal beitreten. Eine grenzenlose Schutzpflicht würde das Selbstbestimmungsrecht sprengen. Das System der Friedenssicherung durch das Völkerrecht stütze sich auf die Existenz territorial abgrenzbarer und handlungsfähiger Staaten. 

Noch Mitte Dezember 2015 vertrat hingegen der „Fachbereich Europa“ des Deutschen Bundestages in einem Gutachten die Auffassung, daß Obergrenzen für Flüchtlinge rechtlich problematisch seien. Unionsrechtlich seien sie allenfalls durchsetzbar, wenn die Abschiebung in sichere Drittstaaten garantiert werden könne. Staatliche Alleingänge dürften selbst dann kaum rechtmäßig sein, wenn sie entgegen dem Unionsrecht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit erlassen würden. Mindestens wäre in einem solchen Fall ebenso eine Abschiebung in ausschließlich sichere Drittstaaten möglich (Ausarbeitung PE 6-3000-153/15). Eine Obergrenze ist nach dieser Ansicht nicht realistisch umsetzbar. 

Kritik an „Gefälligkeitsgutachten“

Schon werden Stimmen laut, wie die der Staatsrechtler Jürgen Bast (Uni Gießen) und Christoph Möllers (HU Berlin), die in Di Fabios Ausführungen recht unverblümt ein fragwürdiges Gefälligkeitsgutachten sehen wollen: „Der juristische Gehalt des Gutachtens ist erstaunlich dürftig,“ ätzen die renommierten Juristen in dem Aufsatz „Dem Freistaat zum Gefallen“ auf verfassungsblog.de. Dies gelte sowohl für die staatstheoretische Herleitung einer Pflicht des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrollen als auch für die These, daß die Defizite des Schengen-/Dublin-Systems zu Selbsthilfe- und Gegenmaßnahmen Deutschlands berechtigten. Hier ist es jeder Erwähnung wert, daß Bast dem „Netzwerk Migrationsrecht“ angehört, dessen Netzseite Gruppen wie Pro Asyl und Flüchtlingsräte verlinkt. Christoph Möllers ist SPD-Mitglied, vertrat und vertritt die Bundesregierung in verschiedensten Verfahren vor dem BVerfG – sein Doktorvater ist Udo Di Fabio.

Welche politischen Auswirkungen das Gutachten Di Fabios letztlich haben wird, ist fraglich. Die Bayerische Staatsregierung kündigt in einem Positionspapier an, sie werde bei der Bundesregierung die aus dem Gutachten ersichtlichen verfassungsrechtlichen Pflichten „anmahnen“; von einer Klage in Karlsruhe ist unter dem Punkt „weiteres Vorgehen“ keine Rede.  

Hans-Jürgen Papier glaubt nicht, das Bundesverfassungsgericht würde der Bundesregierung im Falle einer Klage eine konkrete Asyl- und Migrationspolitik diktieren. Sogar Di Fabio selbst gesteht: Vom Bundesverfassungsgericht würde angesichts eines weiten Gestaltungsspielraums des Bundes allenfalls eine grundsätzliche Handlungspflicht festgestellt. 

Während die Gelehrten streiten, der aktuelle Rechtsbruch sogar unter Gegnern von Obergrenzen und Grenzkontrollen kaum noch verneint wird, werden die Fakten woanders geschaffen: Mehr als 50.000 neue „Flüchtlinge“ gelangten in den ersten 14 Tagen des Jahres 2016 nach Deutschland.





Schengen-/Dublin-System

In der Dublin-III-Verordnung ist unter anderem geregelt, daß ein Asylbewerber in dem EU-Mitgliedstaat seinen Asylantrag stellen muß, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat. Dort hat auch die Registrierung und die Durchführung des Asylverfahrens zu erfolgen. So soll sichergestellt werden, daß jeder Asylantrag nur von einem Mitgliedstaat inhaltlich geprüft wird. Stellt sich dabei heraus, daß der Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat zu bearbeiten ist, ergeht ein Übernahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an den betreffenden Mitgliedstaat. Stimmt dieser zu, erhält der Antragsteller hierüber einen Bescheid. Sodann vereinbaren die Mitgliedstaaten in der Regel die Modalitäten der Überstellung. Das Schengener Abkommen trat am 26. März1995 in Kraft. Parallel zur Abschaffung der Binnengrenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten sollte ein einheitlicher Raum der Sicherheit und des Rechts gewährleistet werden. Strenge Personenkontrollen an den Außengrenzen galten in der Logik von Schengen als ein wichtiges Gegengewicht zum Wegfall der Kontrollen. Artikel 23 der Verordnung erlaubt es Mitgliedstaaten, an ihren Grenzen zu einem anderen Schengen-Staat bei einer „schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“  bis zu 30 Tage wieder Grenzkontrollen einzuführen.