© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Plädoyer gegen die Instrumentalisierung der Religion durch die Politik
Praktische Vernunft tut not
Michael Frisch

Keine Dombeleuchtung für die AfD, Teilnahmeverbote für Christen bei Pegida, moralische Verdikte gegen jede Form von Kritik an der millionenfachen illegalen Zuwanderung – dafür unverblümte Zustimmung für Merkels Asylpolitik, flammende Predigten für eine „Refugees welcome“-Kultur, plakative Gegenüberstellung von offenen Herzen und verschlossenen Grenzen: Wer in diesen Wochen öffentliche Stellungnahmen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland liest und hört, der muß – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den Eindruck gewinnen, hier handele es sich um Verlautbarungen einer Nebenstelle des Bundespresseamtes. Immer wieder betont man, es sei völlig unmöglich, als Christ gegen die „Willkommenskultur“ zu sein, denn die Nächstenliebe gebiete kategorisch die Aufnahme aller zu uns Kommenden. Wer Menschen zurückweise, so die klare Botschaft, handele unbarmherzig und unchristlich.

Gegen solches Pathos ist schwer anzukommen. Dabei bedürfte es zumindest für Katholiken doch nur eines kurzen Blicks auf die katholische Soziallehre, um den fundamentalen Irrtum hinter dieser Form von Parteinahme zu erkennen. Denn die hier von der Theologie formulierten Prinzipien für das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaft und Staat beruhen auf einer klaren Trennung von religiösen Grundsätzen einerseits und den mit Hilfe der Vernunft daraus abgeleiteten politischen Handlungsoptionen andererseits.

Natürlich ist es für Christen vollkommen klar, daß das Gebot der Nächstenliebe sie verpflichtet, Menschen in Not zu helfen. Deshalb wäre es aus christlicher Sicht inakzeptabel, einfach wegzusehen, das Leid der Menschen in Syrien und anderswo zu ignorieren und sich teilnahmslos dem eigenen Alltagsgeschäft zu widmen. Und in der Tat gibt es niemanden in der politischen Debatte, der diese Feststellung ernsthaft in Frage stellt – alle, von der AfD bis zu den Linken, sind sich einig, daß Hilfe geboten ist.

Damit aber ist nicht nur der Konsens im gesellschaftlichen Diskurs, sondern auch die politische Implikation des christlichen Glaubens bereits erschöpft. Denn weder die Bibel noch die Theologie oder die Lehre der Kirche geben konkrete Anweisungen dafür, wie mit der Flüchtlingskrise der Jahre 2015ff. umzugehen ist. Daß wir helfen müssen ist klar – aber wie und wo und in welchem Maße? Wer behauptet, hier könne der christliche Glaube eins zu eins in politische Maßnahmen übersetzt werden, die zudem nahezu deckungsgleich mit der Asylpolitik der amtierenden Bundesregierung sind, der betreibt üblen Mißbrauch mit der Religion.

Es gehört zur Freiheit eines Christenmenschen, in kluger Abwägung unterschiedlicher Interessen und Prinzipien und unter Einsatz seiner kritischen Vernunft herauszufinden, welche der zahlreichen Handlungsmöglichkeiten am besten geeignet sind, die sich aus dem Glauben ergebenden Verpflichtungen auch tatsächlich zu erfüllen. Dagegen wäre es eine geradezu fundamentalistische Interpretation der Religion, hier eine bestimmte politische Option als die einzige christlich denkbare zu qualifizieren und jede Abweichung davon als unchristlich zu brandmarken. Genau das aber passiert im Augenblick: Merkels Willkommenskultur, eigentlich nur eine Entscheidungsvariante unter vielen, wird quasi zum Dogma erhoben, Kritik an dieser Politik wird von einer anderen Meinung zur Ketzerei.

Dabei kann Solidarität mit von Krieg und Verfolgung bedrohten Menschen zweifellos auch vollkommen anders realisiert werden, als dies aktuell geschieht. Stabilisierung der Krisenländer mit politischen und diplomatischen Mitteln, Verzicht auf Waffenlieferungen und militärisches Eingreifen, Schaffung von menschenwürdigen Unterbringungsmöglichkeiten in der jeweiligen Region unter Aufsicht der UN und finanziert durch die EU, großzügige Unterstützung beim Wiederaufbau der zerstörten Länder, Herstellung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die langfristig eine gewisse Prosperität dieser Staaten ermöglichen. Dadurch ergäben sich zugleich weniger lebensgefährliche Überfahrten über das Mittelmeer, würden soziale Konflikte in Deutschland und Europa vermieden, Parallelgesellschaften und religiös-kulturelle Verwerfungen verhindert, die exorbitant hohen Kosten für Versorgung und Integration von Millionen schlecht ausgebildeter und völlig kulturfremder Menschen in unserem Land spürbar gemindert.

Eine Gesinnungsethik, die sich bloß auf die gute Intention und abstrakte Grundsätze stützt, dabei aber die Folgen ihres Tuns ausblendet, taugt nicht für die Politik. Wer politisch verantwortlich handeln will, muß es nicht nur gut meinen, sondern auch gut machen.

Auch Subsidiarität und Gemeinwohl, neben der Solidarität weitere Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre, könnten so angemessener erfüllt werden als mit einer willkommensberauschten Einladung an alle. Denn natürlich wäre es besser für die jetzt in der Fremde ihr Heil Suchenden, wenn sie mit unserer Hilfe in ihrer Heimat und in eigener Verantwortung akzeptable Lebensumstände schaffen würden, anstatt sich in den sozialen Strukturen Europas alimentieren und damit abhängig machen zu lassen. Und natürlich würde es das Gemeinwohl aller Beteiligten erfordern, nicht nur die Bedürfnisse der „Flüchtlinge“ in den Blick zu nehmen, sondern auch die vielfache Not der Bedürftigen und Notleidenden in unserem Lande, die ja im unmittelbaren Sinne unsere Nächsten sind.

Eine Gesinnungsethik, die sich ausschließlich auf die gute Intention und abstrakte, vom konkreten Problem losgelöste Grundsätze stützt, dabei aber die tatsächlichen Folgen ihres Tuns ausblendet, taugt nicht für die Politik. Wer politisch verantwortlich handeln will, muß es nicht nur gut meinen, sondern unter Berücksichtigung aller Faktoren eines meist komplexen Geschehens auch gut machen. Viel zu oft schon war eine hehre Motivation die Ursache katastrophaler Folgen, unter denen aber weniger die für die falschen Entscheidungen Zuständigen als vielmehr die einfachen Bürger zu leiden hatten.

Hinzu kommt, daß in der Asyldebatte häufig Individual- und Sozialethik unzulässig miteinander vermischt werden. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob Frau Merkel und Herr Gauck einzelne Flüchtlinge in ihrem Haus beherbergen oder ob sie im Namen Deutschlands eine Einladung an alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt aussprechen. Denn während sie – wenn sie es wirklich täten – für die individuelle Entscheidung auch alleine die Folgen zu tragen hätten, bürden sie im zweiten Falle 80 Millionen Deutschen und wegen der Auswirkungen auf Europa auch noch vielen anderen darüber hinaus völlig ungefragt eine Last auf, die sie auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen wird.

Irritierend, wenn im Zuge der Asylkrise plötzlich auch jene ihren Glauben entdecken, die sich in der Vergangenheit nicht dazu bekennen wollten. So viele Christen in hohen politischen Ämtern wie zur Zeit hatten wir seit langem nicht mehr.

Deshalb kann und darf eine für das ganze Land verantwortliche Kanzlerin noch lange nicht einfach das tun, was für sie als Bürgerin nicht nur erlaubt, sondern vielleicht sogar aus ihrem Glauben heraus moralisch verpflichtend wäre. Was individualethisch gesehen richtig ist, muß eben aus sozialethischer Perspektive keineswegs das Beste für alle Betroffenen sein.

Grundsätzlich gilt: Wenn politische Ziele religiös überhöht und mit hohem moralischen Pathos vertreten werden, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Denn die allermeisten Fragen der Politik sind nicht unmittelbar vom christlichen Glauben her zu beantworten, sondern unterliegen einer Güterabwägung mit Hilfe der praktischen Vernunft. Wer den Menschen dagegen mit zuviel Weihrauch den klaren Blick vernebelt und damit die Regierungspolitik als für Christen alternativlos zu verkaufen versucht, der bedient sich eines fundamentalistischen Denkens, das mit einem modernen Christentum nicht kompatibel ist.

Nicht zuletzt ist es irritierend, wenn im Zuge der Asylkrise plötzlich auch jene ihren Glauben entdecken, die sich in der Vergangenheit zumindest öffentlich nicht dazu bekennen wollten. So viele Christen in hohen politischen Ämtern wie zur Zeit hatten wir seit langem nicht mehr. Abtreibung und Sterbehilfe, Gender Mainstreaming und Familienschutz, Christenverfolgung in islamischen Ländern und drohender Verlust der christlichen Identität Europas: Hier hätte es genügend Felder gegeben, sich als Politiker für christliche Werte zu engagieren.

Doch von den meisten der sich heute so christlich Präsentierenden hat man dazu im besten Falle nichts, im schlimmeren Falle sogar mit dem Menschenbild der Bibel nicht vereinbare Positionen vernommen. Sie sind daher weniger glaubwürdige Zeugen für eine Verteidigung des Christentums in der aktuellen Asyldebatte als vielmehr am eigenen Machterhalt interessierte politische Repräsentanten mit einem Hang zum Opportunismus.

Schließlich kommt aus Sicht der christlichen Kirchen noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die mit der ungesteuerten Einwanderung einhergehende schleichende Islamisierung unseres Landes wird die religiöse Statik langfristig gravierend verändern. Nachdem es dem Islam im Laufe der Geschichte trotz aller militärischen Bemühungen verwehrt war, dauerhaft in Europa Fuß zu fassen, könnte er jetzt auf nicht-militärischem Wege dieses Ziel erreichen. Für die Kirchen bleibt das nicht ohne Folgen: Ein zwar reiches, aber alterndes und glaubensschwaches Christentum, das großenteils nur noch aus einer schmucken Fassade besteht, träfe auf eine dynamische und im Glauben strenge Religion, die von einem größeren Engagement, ja oft von einer echten Begeisterung ihrer Anhänger getragen wird.

Man benötigt keine allzu große Phantasie, sondern lediglich etwas Arithmetik und das Wissen um die Kinder- und Familienfreundlichkeit des Islam, um sich vorzustellen, daß ein christliches Eu­ropa in wenigen Generationen zur Geschichte werden würde. Manche mögen das begrüßen, andere zumindest nicht bedauern.

Erstaunlich jedoch, daß dieses durchaus realistische Szenario die Amtskirchen in Deutschland nicht wirklich zu beunruhigen scheint. Ganz im Gegenteil: Den Predigten und anderen öffentlichen Aussagen vieler katholischer oder evangelischer Repräsentanten zufolge betrachtet man die durch die massenhafte Einwanderung hervorgerufene Ausbreitung des Islam geradezu als eine Bereicherung unserer abendländischen Kultur.

Fakten, die diese nai­ve und geschichtsvergessene Multikulti-Harmonie stören könnten, werden ausgeblendet. Selbst die blutige Christenverfolgung in vielen islamischen Ländern findet kaum Beachtung, Fürbitten oder gar öffentliches Eintreten für die nicht selten vom Tod bedrohten Brüder und Schwestern haben Seltenheitswert.

So opfern die Kirchen auf dem Altar der zum Dogma erhobenen Willkommenskultur nicht nur die Solidarität mit den Glaubensgeschwistern, sondern setzen langfristig die eigene Existenz aufs Spiel und nehmen dabei sehenden Auges auch jene Folgen für ihre Gläubigen in Kauf, von denen christliche Syrer in muslimisch dominierten Asylbewerberheimen heute bereits berichten können.






Michael Frisch, Jahrgang 1957, ist Gymnasiallehrer für Mathematik und Katholische Religion in Trier.