© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/16 / 22. Januar 2016

Emotion ersetzt die Analyse
Anja Reschkes Sammelband als ein Beitrag zur deutschen „Refugees-welcome“-Bewegung
Herbert Ammon

Es gibt Sammelbände, die der Mühe lohnen. Im soeben erschienenen Buch zur Flüchtlingsthematik mit sage und schreibe 25 Beiträgen ist dies nicht der Fall. Den Ton gibt Herausgeberin Anja Reschke vor, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR. Im März 2013 habe sich Innenminister Hans-Peter Friedrich noch damit „gebrüstet“, Deutschland werde großzügige Hilfe bereitstellen und „sei sogar bereit, 5000 (!) Syrer aufzunehmen“. „Und dann hielten sie nicht mehr, dann wirkten sie nicht mehr, die Abwehrmaßnahmen Europas.“ 

Ist es nur der Stil, das von moralischer Entrüstung diktierte Stakkato, welches TV-Nachrichten ungenießbar macht? Griechenland und Italien konnten im Sommer 2015 mit dem Ansturm nicht mehr „klarkommen. Also ließen sie sie ziehen ...“ Danach mußten in Deutschland kommunale Funktionsträger, Grenzpolizisten „und vor allem die Bürger (...) damit klarkommen, daß plötzlich Tausende Menschen vor der Tür standen.“

Als Reschke in einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen die im Internet ansteigenden Haßbotschaften anprangerte, erhielt sie „Briefe, die vor Wut und Selbstmitleid trief(t)en“. In dem Buch gehe es darum, „das Thema, das viele nur als Gefahr wahrnehmen, aus anderen Blickwinkeln zu betrachten“. Letztlich, auch mit Blick auf die zu 37 Prozent zuwanderungsfreundliche Jugend, gehe es darum, wie „unser Land“ und Europa in Zukunft aussehen solle: „Auf welchen Werten unsere Gesellschaft fußen soll.“ Folglich herrscht der von hohen Werten und – wie auch anders – von mahnenden Bezügen auf „unsere“ deutsche Vergangenheit bestimmte Blickwinkel auf die mißliche globale Realität vor. 

Wes Herz nicht verhärtet ist, wird die Augen vor den dargestellten Einzelschicksalen nicht verschließen. Erwähnt sei der Aufsatz von Bahman Nirumand über den „Schmerz, die Heimat verlassen zu müssen“. Ein Bericht über einen wegen „Schleusertätigkeit“ verhafteten Ingenieur, der, syrisch-orthodoxer Christ, uneigennützig Landsleuten zur Flucht verhalf, offenbart das alte Dilemma von Gesetz und Mitleiden. Der Artikel zu „Syrien. Ein Land in Auflösung“ bietet indes nur eine lückenhafte Analyse des durch die Rebellion gegen den anfangs moderat auftretenden Machthaber Baschar Assad ausgelösten Kriegselends. Der hauptursächliche Konflikt zwischen alawitischem Minderheitsregime und sunnitischer Mehrheit kommt nicht ins Bild; Geopolitik und Ideologie, die Interessen der Saudis, der USA, der Türkei und Frankreichs, das unter Hollande erst die „demokratische Opposition“ unterstützte und nunmehr den Bösewicht Assad ins Spiel einbeziehen will, werden nur angedeutet.

Daß die WDR-Redakteurin Gabriele Gillen bei Fluchtursachen die Unterscheidung zwischen Armut und Verfolgung nur unter „Ressentiments“ subsumiert – „die häßlichste Ausländer- und Flüchtlingsbeschimpfung“ reserviert sie für die CSU –, überrascht nicht. Wo sie erklärt, man „benötige noch mehr Raum, um die Komplexität von Gewalt-, Elends- und Migrationprozessen darzustellen“, ist ihr etwas später „das Wesentliche“ längst klar: „unsere Verantwortung für das zerstörerische Erbe von Kolonialismus und Imperialismus“. Sodann: „Immer mehr Menschen werden im Verwertungskreislauf des Kapitals nicht gebraucht.“ 

Ähnlich erklärt Daniela Dahn die „historische Verantwortung des Westens“. Der Beitrag enthält einige Fakten zu den Balkankriegen sowie zu verfehlter Entwicklungspolitik vermittels der Kredit- und Tilgungsfalle der Weltbank. Die schamlose Kleptokratie der postkolonialen „Eliten“ in vielen Ländern Afrikas allein aus dem Vorbild der Kolonialherren abzuleiten, ist indes allzu billig. Selbst für Mugabe, der Simbawe in Grund und Boden ruiniert hat, findet sie Verständnis angesichts der „strukturellen Gnadenlosigkeit“ des Westens. Warum aber wurden in Angola und anderswo aus revolutionären Marxisten über Nacht superreiche Kapitalisten? Wie erklärt die Marxistin Dahn die Stammeskämpfe (inkorrekter Begriff) im jüngst unabhängigen Südsudan?

Herfried Münkler holt in dem Beitrag über „Die Satten und die Hungrigen“ bei den Wanderungen im Neolithikum weit aus, landet über den biblischen Exodus und der mittelalterlichen Stadt als permanentem Anziehungsort („pull factor“) in der Gegenwart. Ob seine Forderung, aus den Migranten müßten, „wenn sie auf Dauer bleiben wollen, Deutsche werden“, im gründeutschen Milieu Beifall findet?

Verteilungskämpfe bei ungezügelter Einwanderung

In der Theorie würden internationale Migrationsbewegungen eindeutig positiv bewertet, so der Ökonom Thomas Straubhaar. Auswanderung komme Herkunfts- wie Zielländern zugute, man könne längst von wechselseitigem Brain-Gain sprechen. Laut Fußnote gibt es indes noch gegenteilige Meinungen. Wie es im Blick auf die für chinesische Billigimporte verwendeten Rücküberweisungen zu Kapitalaufbau und Wachstum kommen soll, wird nicht diskutiert. Immerhin schreibt der Autor, daß es bei ungezügelter Einwanderung zu Verteilungskämpfen kommen könnte.

Industrielles Wachstum gilt als Bedingung für Minderung der Armut dort, für Integration der Immigranten hier. Was letzteres betrifft, erklärte der zur Klimadebatte geladene Ökonom Andreas Löschel: „Der starke Zuzug von Migranten wird Deutschlands CO2-Ausstoß spürbar erhöhen.“ Wo Emotion die Analyse ersetzt, ist nicht zu erwarten, daß Widersprüche in komplexer Wirklichkeit erkannt werden. Auch nicht von Heribert Prantl, der in seinem abschließenden Moralplädoyer sogar einsieht: „Wir können in Deutschland natürlich nicht alle aufnehmen.“

Anja Reschke (Hrsg.): Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, Rowohlt Polaris, Berlin 2015, broschiert, 336 Seiten, 12,99 Euro